Ahmed hat sich gefangen
Wenn Migration schiefläuft und was man dagegen tun kann
von Alain Pichard,* Schweiz
(2. Mai 2025) Verweigerte Handschläge von muslimischen Vätern gegenüber Lehrerinnen erregen kaum mehr Interesse in der Öffentlichkeit. Das ist gut so! Denn erstens haben die überwiegende Mehrheit der Muslime in der Schweiz überhaupt kein Problem mit dem für uns so prägnanten Begrüssungsritual und zweitens löst so eine Handschlagdebatte in der Regel fruchtlose Symboldebatten aus, die uns den wesentlichen Blick auf durchaus ernstzunehmende Entwicklungen versperren.

(Bild zvg)
Vor einer Woche traf ich einen dieser Handschlagsverweigerer wieder. Nach einer wechselhaften und mit vielen Misserfolgen gepflasterten Schullaufbahn begrüsste er mich aus einem flotten Auto. Er sei inzwischen Fahrlehrer. Ob ich immer noch der velofahrende Lehrer ohne Fahrausweis sei, fragte er mich strahlend. Ich bejahte und lud ihn zu einem Kaffee ein. Ahmed1 ist der Sohn von Aysche,1 die im zarten Alter von 9 Jahren in den 80er Jahren in einer Vorortsgemeinde von Biel zu mir in die Klasse kam. Da sie ein sehr lernwilliges Mädchen und überdies auch die einzige Fremdsprachige weit und breit war, lernte sie die deutsche Sprache rasch und so gut, dass sie nach der Schule eine Lehre als Apothekerhelferin machen konnte, was damals als eher anspruchsvolle Berufsausbildung galt.

Nach dem erfolgreichen Abschluss ihrer Lehre heiratete sie einen Mann aus ihrem Dorf in der Türkei und zog nach Biel. Der Mann konnte kein Deutsch, hatte aber dafür seine religiösen Prinzipien. Aysche gab ihren Job auf, verdeckte ihr Haar unter einem Kopftuch, bekam einen Sohn, dann noch einen und schliesslich einen dritten. Ihr Mann fand keinen Job und anschliessend lebte die ganze Familie von der Sozialhilfe.
Als ihr erster Sohn Ahmed eingeschult wurde, sprach er kein einziges Wort Deutsch. Damit war seine Schulkarriere vorprogrammiert. Er landete schliesslich in einer Bieler Realklasse, die zu 100% aus Schülern bestand, die zu Hause kein Deutsch sprachen. Er erhielt zwar dreimal so viele Stützlektionen wie seine Mutter, die auch heute noch perfekt Deutsch spricht, aber sein Lernzuwachs hielt sich in bescheidenen Grenzen. In der 8. Klasse begann er zu kompensieren, das heisst, er verprügelte mit einer Gang andere Schüler, machte kaum noch Aufgaben und verweigerte seiner Klassenlehrerin den Handschlag. Nicht aus religiösen Gründen, wie er immer betonte, sondern weil ihm diese Frau auf die Nerven ging. Auf die Nerven ging er aber auch der Lehrerin, dem Klassenteam und der Schulleitung. Als er eine seiner Prügeleien filmen liess und dies ins Netz stellte, kam es wie es kommen musste. Er erhielt einen Schulausschluss. Die Oberstufenzentren Mett-Bözingen und das Oberstufenzentrum Orpund hatten enge Kontakte. Mit den Bieler Schulbehörden einigte man sich auf einen unkomplizierten Deal. Man schickte den Lümmel zu mir.
Einen Handschlag zu verweigern, wäre ihm nie in den Sinn gekommen. Nicht nur, weil ich ein Mann war. Er wusste, dass er einen Lehrer vor sich hatte, der sich für ihn interessierte. Hätte er mit solchen Spässchen angefangen, wäre ich eingefroren. Kein «ich will, dass du das kannst», keine Zeit nach der Schule, in welchem ich ihm die proportionale Zuordnung noch einmal erklärte. Und mir wäre es nie in den Sinn gekommen, bei einer Handschlagverweigerung die Schulleitung einzuschalten oder gar nach einem Reglement zu rufen. Wir konnten es recht gut miteinander. In den letzten Monaten, die er noch in der Schule war, versuchte er, seine Defizite aufzuholen und verprügelte niemanden mehr. Danach folgte ein 10. Schuljahr gefolgt von einem Integrationsprogramm.
Wichtig war, dass er in eine funktionierende Klasse kam, mit einem Drittel Kinder, die einen Migrationshintergrund hatten. Er erlebte einen funktionierenden Unterricht, der ihn forderte. Und er realisierte, dass er – der 9. Klässler – in dieser 8. Klasse absolut nicht mitkam. Er konnte kaum einen einfachen Text lesen und im Fach Mathematik beherrschte er knapp das «1×1».
Als ich Aysche, seine Mutter zum Elterngespräch empfing, fragte ich unverblümt: «Aysche, wie konntest du nur?!» Aysche war verzweifelt. Sie hatte sich vor kurzem von ihrem Mann getrennt, ihr Kopftuch abgelegt und sah alles ein. Wir konnten uns auf die unmittelbare Zukunft konzentrieren.
Die Geschichte von Aysche und ihrem Sohn Ahmed ist erzählenswert, weil sie ein Licht wirft auf Verhaltensweisen, die uns immer wieder ratlos hinterlassen und deren Folgen gravierend sind. Abgesehen von der Abkapselung religiöser muslimischer Familien von anderen Mitbürgerinnen in der Nachbarschaft ist die Verweigerung des Handschlags ja längst nicht die einzige Regel für den Alltag, welche unsere muslimischen Fundis, aus einem Buch herleiten, das Menschen vor über 1500 Jahren geschrieben haben. Das Tragen des Kopftuchs während des Unterrichts, kein Schweinefleisch in der Hauswirtschaft, Halal-Fleisch im Lager, kein Schwimmunterricht dafür ein Gebetsraum in der Schule, ein «Früheres aus der Schule gehen», damit das Freitagsgebet nicht verpasst wird, Lagerdispensationen, Ramadanfeiern, die Liste der Wünsche ist lang und – das ist ein Erfahrungswert – je länger die Liste, desto geringer der Schulerfolg. Womit wir beim eigentlichen Problem wären. Denn Aysche und Ahmed sind keine Einzelfälle.
Menschen kommen zu uns, weil sie eine Perspektive suchen. Und die meisten erkennen die Chancen, die unser Land ihnen bietet. Andere aber wollen genau so leben wie dort, woher sie gekommen sind. Aus Wirtschaftsmigranten werden so Versorgungsmigranten, denn auch das bietet unser Land. Verlässliche Gesetze, die für einen Staat sorgen, in welchem niemand fallen gelassen wird und der zudem für die Konsequenzen dieser Lebenseinstellung aufkommt. Fragt sich noch, wie lange, denn um Aysche und ihre Familie zu versorgen, benötigen wir zwei gute Steuerzahler. Die Umkehrung unserer Werte, (Eigenverantwortung, Fleiss, Anstrengung und Toleranz), wie sie von manchen Migrations- und Islamexpertinnen gepredigt werden, und deren Behauptung, dass schulische Misserfolge auf die ungenügenden Integrationsbemühungen des Gastlandes zurückzuführen seien, nützen den Betroffenen wenig. Ahmed hat dies erkannt. Er brauchte einen Umweg und Lehrer, die sich für ihn interessierten. Nach einer Verkäuferlehre, die er mit Mühe bestand, fing er sich, half seinem Bruder in der Freizeit mit einer Bar und machte die Ausbildung zum Fahrlehrer. Er ist verheiratet und erwartet dieses Jahr sein erstes Kind. «Wann», fragte er mich grinsend, «machst du endlich deinen Führerausweis?» «Sobald deine Tochter in den Kindergarten kommt und Deutsch kann», antwortete ich.
* Alain Pichard, geboren 1955, ist seit 42 Jahren Real- und Sekundarlehrer, vorwiegend an Brennpunktschulen in Biel, Mitinitiator des Memorandums «550gegen550», Mitherausgeber des «Einspruch», Gründer des «Lehrlings-und Migrantentheaters «TheaterzoneBiel», Gewerkschafter, Mitglied der Grün-liberalen Partei (GLP). |
Quelle: https://condorcet.ch/2025/04/ahmed-hat-sich-gefangen, 12. April 2025
1 Namen wurden geändert.