Pädagogischer Optimismus
von Michael Felten,* Deutschland
(20. Juni 2025) Optimismus, den könnte das ins Schlingern geratene Schulwesen gut gebrauchen. Und Alfred Adler, der Begründer der Individualpsychologie, hätte da einiges zu bieten. Seine erfahrungsbegründete These: Jedes Kind, mag es biografisch auch noch so belastet sein, kann sein Lernverhalten und seine Sozialität in der Schule verändern und positiv entwickeln. Es braucht dazu allerdings standfeste und kundige Lehrpersonen, die seinen bisherigen Lernstil feinfühlig erfassen, es individuell ermutigen und herausfordern, und seine Verbundenheit mit einer prosozial geführten Klassengemeinschaft stärken.

(Bild zvg)
Man spürt sofort: Das wäre ein förmliches Gegenprogramm zu dem, was in den letzten Jahren in der Bildungslandschaft Usus geworden ist.
Stichwort Kompetenzklauberei: Wie viel kostbare Pädagogenzeit wird oft mit dem Feilen an schulinternen Curricula verschleudert!
Stichwort Selbstlernidyllik: Wie blendet das modische Narrativ vom selbstregulierten Lernen doch aus, dass dieses häufig nur oberflächlich und anspruchsminimiert verläuft – und schwächere Schüler besonders benachteiligt!
Stichwort Ermässigungspädagogik: Da wird die Rechtschreibung vereinfacht, die Hausaufgabenmenge reduziert, falsche Lösungen als halbrichtig anerkannt – dabei braucht man Schwierigkeiten um zu wachsen, macht nur Übung den Meister!
Und dann dieser Störungsdilettantismus: «Schwierige» Schüler werden allzu schnell bekämpft – oder aber unter Medikamente gesetzt. Nicht zu vergessen: die – allerdings mittlerweile ernüchterte – Inklusionseuphorie.

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Was würde Alfred Adler, der vor 100 Jahren an der Erneuerung des Schulwesens im Roten Wien beteiligt war, der heutigen Schule raten?
Man könnte es Bindungsbasierte Schulpädagogik nennen: Doktert nicht unnötig an Strukturen und Systemischem herum, sondern sorgt dafür, dass es genug Lehrpersonal gibt – und dass dieses gut ausgebildet ist, als feinfühlige Führungskraft, insbesondere auf der Beziehungsebene.
Lehrerinnen und Lehrer sollen nämlich einerseits Fachwissen nachhaltig vermitteln können; sie müssen aber auch in der Lage sein, Kinder beim Lernen angemessen zu ermutigen, etwaige Lernstörungen genau zu verstehen und Auswege aus ungünstigen Verhaltensmustern zu weisen. Solch kommunikative wie diagnostische Kompetenz ist indes hohe Kunst – und sie kommt in der Lehrerausbildung regelmässig zu kurz.
Der Fortschritt, den Adlers tiefenpsychologisches Denken dem Bildungswesen bescherte, bestand zum einen darin, dass Intelligenz und Charakter von Schülern nicht länger als statisch, als etwas Unveränderbares gesehen wurden, sondern dynamisch: Es liess sich nachvollziehen, warum ein Kind diesen oder jenen Lebens- und Lernstil herausgebildet hatte – und warum es sich in der Schule dann als Streber oder Faulpelz, Störenfried oder Aussenseiter präsentierte.

Dieser Durchblick versetzte Lehrer in die Lage, bislang unverstandene – und deshalb reflexhaft wirkende – Fehlhaltungen, das irrtümliche Selbstbild, die ungünstige innere Zielsetzung ihrer Schüler aufzudecken und diese zu konstruktiveren Schritten, zu einer anderen Gangart zu ermutigen.
«Die Kinder sind nicht schlecht von Natur aus, sondern haben sich dahin entwickelt, weil sie meinten, so sein zu müssen, um Erfolg haben zu können», schrieb Adler. Man komme weiter, wenn man nicht mit «Sorgenkindern» kämpfe, sondern ihre Muster wohlwollend durchschaue – und ihre Energie in nützliche Bahnen lenke. Lehrkräfte, die dieses Metier beherrschen, sind chronischen «Störenfrieden» aller Art weniger ausgeliefert, können sie auf sinnvollere Bahnen lenken.
Zudem kommt es im Unterricht solcher Lehrer ganz einfach zu weniger Störungen. Denn führungsfreudige Erwachsene reissen auch latent lernunlustige Heranwachsenden besser mit – stärker jedenfalls als Pädagogen, die dauernd bitte zu Kindern sagen oder sie unkontrolliert «eigenverantwortlichem Arbeiten» überlassen. Adler plädierte für eine Lehrerhaltung, die Souveränität und Einfühlsamkeit verbindet – was heutige Entwicklungspsychologie und Unterrichtsforschung bestätigen.
Schule muss keineswegs neu gedacht, gar ganz anders gemacht werden. Viel wäre gewonnen, wenn sie vernünftig ausgestattet und forschungsbasiert praktiziert würde. Sollten nicht viel mehr Schulen Alfred Adler als Namensgeber und Leitfigur küren?
* Michael Felten, Jg. 1951, hat 35 Jahre Mathematik und Kunst unterrichtet. Er ist Autor von Sachbüchern und Unterrichtsmaterialien, arbeitet als freier Lehrerweiterbildner und hat den Human Award 2014 der Uni Köln erhalten. www.eltern-lehrer-fragen.de. |
Literaturhinweis: http://alfred-adler-panorama.info/