Palästina: «Helft uns, die Tragödie zu stoppen!»

Sumaya Farhat-Naser über die Situation im Gazastreifen und Westjordanland

Veranstaltung des Vereins «Schweizer Standpunkt»

(20. Juni 2025) (Eigener Bericht) In den sehr gut besetzten Räumen des Schweizer Standpunktes in Frauenfeld referierte die Palästinenserin, Frau Dr. Sumaya Farhat-Naser, am 13. Mai 2025 über die Situation in Gaza und Westjordanland und ihr Engagement dort. Kenntnisreich umriss die Referentin die katastrophale humanitäre Situation. Gleichzeitig beeindruckte sie das Publikum durch ihre besonnene, friedliche und gleichwertige Einstellung der Welt gegenüber.

Sumaya Farhat-Naser während ihres Vortrags. (Bild mt)

Zu Beginn ihres Vortrags zitierte Frau Dr. Sumaya Farhat-Naser* den ehemaligen UN-Sonderberichterstatter Professor Richard Falk, um die aktuelle katastrophale Lage der Palästinenser im Gazastreifen und im Westjordanland zu beschreiben: Während die israelische Regierung bei der kompletten Zerstörung des Gazastreifens von einem Selbstverteidigungsrecht spreche, werde jede Reaktion der Palästinenser darauf als terroristischer Akt gewertet.

Jüngst hätte ein führender israelischer Politiker die palästinensische Bevölkerung als «menschliche Tiere» bezeichnet. Dies sei eine neue Stufe in der Eskalationsspirale. Damit würde den Palästinensern ihre Menschlichkeit abgesprochen und ihre Rechte als Menschen werde in Frage gestellt. Eine noch so unmenschliche Handlung könne so gerechtfertigt werden. Die Bewohner Palästinas würden mit solchen Äusserungen ausserhalb des menschlichen Rechts gestellt werden.

Das Schweigen Europas

Besonders betroffen zeigte sich Frau Dr. Farhat-Naser über das Schweigen Europas und der USA zu den aktuellen Vorgängen im Gazastreifen. Offizielle Äusserungen, wie «die Lage sei nicht akzeptabel», reichten nicht aus. So würden trotz aller Bekenntnisse weiterhin Waffen geliefert. Eindeutige Stellungnahmen oder Reaktionen des Westens, die das israelische Vorgehen tatsächlich stoppten, fehlen komplett. Dies sei aber möglich.

In einem kurzen Rückgriff skizzierte die Referentin die historische Ausgangslage: Sowohl die Israelis als auch die Palästinenser lebten im gleichen Land. Da müsste man sich demokratisch einigen. Verschiedene Vorschläge lagen und liegen vor. Doch in den 1940/50er Jahren seien Fakten geschaffen worden: 65% der Palästinenser seien aus ihren Wohngebieten vertrieben worden. Es hätten 41 Massaker stattgefunden und 510 Dörfer seien zerstört worden. Verantwortliche, wie Menachem Begin oder Ariel Sharon seien später Premierminister Israels geworden. Offiziell gelten sie als «Helden», während die palästinensischen Bewohner, die sich gewehrt hätten, als «Terroristen» bezeichnet werden.

Im Zusammenhang mit der massenhaften Vertreibung der ursprünglichen arabischen Bevölkerung wurde 1949 von der UNO das UNRWA (Hilfswerk der Vereinten Nationen für Palästina-Flüchtlinge im Nahen Osten, englisch United Nations Relief and Works Agency for Palestine Refugees in the Near East) gegründet, um das Elend der Flüchtlinge zu lindern. Dies mit der Option, dass die Flüchtlinge nach einer politischen Einigung wieder zurückkehren könnten. Heute, nach 76 Jahren, müssen die inzwischen 7 Millionen Flüchtlinge in Israel und den umliegenden Staaten immer noch unterstützt werden – und eine politische Lösung liegt immer noch in weiter Ferne.

Die UNRWA wird aktuell politisch unter Druck gesetzt, diskreditiert und ihre Arbeit massiv behindert. Dadurch entfällt in der aktuellen Kriegssituation eine unerlässliche Lebensader für Millionen Menschen.

Gazastreifen

Frau Dr. Farhat-Naser berichtete (Stand Mitte Mai): In Gaza seien 85% aller Gebäude zerstört, darunter fast alle Kliniken, Kläranlagen, Moscheen, Kirchen, drei Universitäten usw. 230 Ärzte und Krankenpfleger seien getötet. Journalisten würden getötet. Die Menschen lebten in ständiger Angst und in anhaltendem Hunger. 300 Kinder seien verhungert. Farhat-Naser erhält ihre Informationen direkt aus dem Gazastreifen.

Im Gazastreifen herrsche blanker Terror: Hamasführer würden mit KI geortet, daraufhin würden automatisch Raketen abgefeuert. Für einen getöteten Hamasführer kämen statistisch 300 unbeteiligte Opfer um, die «versehentlich» getroffen würden. Immer wieder wurde Frau Dr. Farhat-Naser gefragt, wie die Bewohner diese Grausamkeiten aushalten könnten. Farhat-Naser verwies auf deren starken Glauben an Gott. Die Menschen interpretieren ihre Lage so: «Wenn Gott uns in diese Situation stellt, dann will er das so.» Auch die Solidarität untereinander spiele eine wesentliche Rolle.

Auf die möglichen Pläne der israelischen Regierung angesprochen, stellte Frau Dr. Farhat-Naser die Hypothese auf, dass es darum ginge, alles unter absolute Kontrolle zu bringen. Ein Plan könnte darin bestehen, die Tunnelsysteme in Gaza, in denen sich vermutlich 50 000 Menschen bewegten, mit Giftgas oder Wasser zu fluten und so alle Menschen darin zu töten. Bisher habe die israelische Regierung wegen der 59 israelischen Geiseln davon abgesehen, dies zu tun, da man sie auch in dem Tunnelsystem vermute. Anschliessend könnte die übrige palästinensische Bevölkerung von der israelischen Armee mit US-amerikanischer Unterstützung in sechs bis sieben abgeriegelte und überwachte Sonderzonen umgesiedelt werden. Die Überwachung dieser Sonderzonen solle mit Eyes-Scanning und KI stattfinden. Nur ausgesuchten Personen würde dann der Zugang gewährt.

Für Frau Dr. Farhat-Naser stehe im Hintergrund der militärischen Operation im Gazastreifen das wirtschaftliche Interesse an den reichen Öl- und Gasvorkommen vor der Küste. So sei auch der «schwimmende Hafen» der USA vor der Küste Gazas weniger humanitären als wirtschaftlichen Interessen geschuldet.

Korrupte Führung

Auf die Frage, warum denn kein wirklicher diplomatisch-politischer Widerstand vonseiten der palästinensischen Bevölkerung erfolge, beleuchtete die Referentin die «innenpolitische» Situation. Der palästinensischen Führung warf sie undemokratisches Verhalten vor. Seit 18 Jahren hätten keine demokratischen Wahlen mehr stattgefunden. Das sei auf die politische Führung der Palästinenser zurückzuführen. Der Chef der Palästinensischen Autonomiebehörde (PA), der inzwischen fast 90jährige Mahmoud Abbas, liesse keinen Nachfolger wählen, sondern bestimme unter dem Einfluss Israels einen Stellvertreter, der ihn dann ohne demokratische Wahlen ablösen solle.

Von den 15 unterschiedlichen politischen Parteien spielten nur zwei eine wesentliche Rolle: die PLO und die Hamas, die aber beide seit Jahrzehnten von Israel gegeneinander ausgespielt würden. Ausserdem sei die Hamas selbst eine israelische Gründung, die über Katar finanziert und geführt würde. Dabei folge Israel der Strategie, «provozieren bis sie reagieren und dann zuschlagen». Deshalb würde die Hamas als ständiger Unruheherd in der Strategie Israels gegenüber den Palästinensern eine wichtige Rolle spielen.

An dieser Stelle verwies Frau Dr. Farhat-Naser auf die doppelzüngige Rolle der EU: einerseits ständig und überall Demokratie fordern, andrerseits echte Wahlen in Palästina verhindern. Sie vermisse die Stimmen Europas und der USA und ihre Forderungen nach demokratischen Wahlen. Sie selbst beschreibt die Palästinensische Autonomiebehörde als durch und durch korrupt. Dringend notwendig seien freie Wahlen, damit das Volk sich endlich wieder äussern kann.

Situation Westbank

Anschliessend ging Frau Dr. Farhat-Naser ausführlicher auf die Situation in der Westbank ein, in der sie selbst lebt. Inzwischen sei das gesamte Territorium vielfach eingezäunt. 900 riesige von israelischen Soldaten kontrollierte Eisentore müssten täglich von den palästinensischen Bewohnern passiert werden, um von einem Ort zum nächsten zu gelangen. Die Kinder in die Schule, die Eltern zum Arbeitsplatz usw. Die Öffnungszeiten würden willkürlich von der israelischen Besatzung festgelegt. So könnten viele Menschen nicht fristgerecht von einem Ort zum anderen kommen.

Täglich findet vom israelischen Militär tolerierter Landraub durch jüdische «Siedler» an den Palästinensern statt. Diese sogenannten «Siedler», zumeist aus Osteuropa, raubten das Land unter Einsatz von Waffengewalt. Seit Jahren findet eine schleichende Vertreibung der ursprünglichen Bevölkerung statt. Ihre Lebensbedingungen verschlechterten sich Jahr für Jahr. Die Existenzgrundlagen würden den Bewohnern entzogen. Hinzu kämen willkürliche Verhaftungen, Gefängnisaufenthalte, auch mit Folterungen, auch sexueller Art.

Zurzeit seien 14 000 Palästinenser inhaftiert. Dazu kommt die aktuelle Politik: In der Westbank würden 19 grosse Flüchtlingslager für vertriebene Palästinenser aufgelöst und Flüchtlinge irrten durch das Land ohne Versorgung und Unterstützung, da ihnen die Hilfe durch das UNRWA so verlorenginge.

Auch finanzielle Mittel würden der palästinensischen Autonomiebehörde entzogen. Seit dem Vertrag von Oslo zieht die israelische Regierung die Steuern für die palästinensischen Autonomiebehörde ein. Doch die eingezogen Steuermittel würden unter fadenscheinigen Vorwänden zurückbehalten. Seit 18 Monaten könnten die Lehrer und Ärzte nicht mehr entlöhnt werden. Es scheint so, als ob die israelische Regierung alle nur erdenklichen Möglichkeiten ausnütze, um das Leben der angestammten Bevölkerung unmöglich zu machen.

Apartheitsstaat Israel?

Diese inhumane Haltung spiegele sich auch in der israelischen Verwaltung und Gesetzgebung wider, wie nach den Ausführungen von Frau Dr. Farhat-Naser immer deutlicher wurde. Offenbar hat sich eine Art Apartheitssystem durchgesetzt. Israelische Führerscheine enthalten unscheinbare Vermerke, ob es sich bei dem israelischen Besitzer um einen Juden oder Palästinenser handle. Das neue Grundgesetz enthalte Passagen, die von einem jüdischen Reich vom Euphrat bis zum Nil sprächen. Auch im Alltag zeige sich die Zweiklassengesellschaft: Es gebe zwei Wasserleitungssysteme: eines für Israelis und eines für Palästinenser. Während die einen immer über genügend Wasser verfügten – täglich 24 Stunden Zufuhr, sei die Zuleitung für die anderen auf Drei-Wochen-Intervalle beschränkt. Man erkenne palästinensische Häuser an den Wassertanks auf den Dächern. Auch Strassen sind inzwischen aufgeteilt. – Die palästinensischen Bewohner seien Menschen zweiter Klasse geworden.

Wie weiter?

Auf die Frage, wie sie mit dieser unmenschlichen Situation umgehen könne und wo sie einen Weg sehe, verwies Frau Dr. Farhat-Naser auf ihren (christlichen) Glauben und drei Grundsätzen: Alle Menschen seien frei und gleich geboren. Jeder sei einzigartig und verschieden. Jeder habe einen wunderbaren Kern.

Sie betonte, dass Hass die Seele zersetze und den Kreislauf der Gewalt immer weiter vorantreibe. Es ginge darum, sich nicht provozieren zu lassen. Im schlimmsten Fall müsse man Grobheiten gegen die eigene Person «übersehen» und sich nicht ärgern, sondern versuchen, mit dem Gegenüber zu sprechen. Dies sei wichtig, um sich selbst sagen zu können, ich habe getan, was möglich ist. Es geht darum, den Frieden aktiv zu suchen.

In der Diskussion erläuterte die Referentin anhand einiger Beispiele ihre Einstellung. Für sie geht es um die Menschen. So hat sie viele jüdische Freunde –, auch wenn der Kontakt heute sehr erschwert wird. Sie liest mit palästinensischen Kindern wichtige menschliche jüdische Texte. Sie baut Brücken und lehrt, Verständnis zu entwickeln.

Frau Dr. Farhat-Naser beeindruckte durch ihre Persönlichkeit und ihr Engagement für eine Welt der Verständigung und des gemeinsamen Zusammenlebens – trotz aller unsäglichen Widrigkeiten. Die Teilnehmer verliessen die Veranstaltung mit dem Gefühl der Hoffnung und nicht mit Wut oder Verzweiflung. Man konnte viel von dieser beeindruckenden Frau lernen.

*  Sumaya Farhat-Naser (1948) ist eine bekannte palästinensische Menschenrechts- und Friedensaktivistin sowie Buchautorin und besucht die Schweiz regelmässig. Sie spricht fliessend deutsch. Sie hält Vorträge, leitet Seminare für junge Menschen und spielt eine wichtige Rolle als Brückenbauerin und «Übersetzerin» zwischen den deutschsprachigen Ländern und Palästina.
Sumaya Farhat-Naser war zuerst Professorin für Botanik und Ökologie an der Universität Birzeit in Palästina. Von 1997 bis 2001 leitete sie das palästinensische «Jerusalem Center for Women», welches im «Jerusalem Link» mit der israelischen Frauenorganisation Bat Shalom zusammenarbeitet. 1989 erhielt Sumaya Farhat-Naser die Ehrendoktorwürde der theologischen Fakultät Münster. 1995 wurde sie mit dem Bruno-Kreisky-Preis, 1997 mit dem Buchpreis des Deutschen Verbandes Evangelischer Büchereien sowie dem Versöhnungspreis «Mount Zion Award» in Jerusalem, 2000 mit dem Augsburger Friedenspreis und 2003 mit dem Preis der Profax Stiftung Küsnacht ausgezeichnet.

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