Aktuelle Lage in der Ukraine und globale Auswirkungen

Jean-Paul Vuilleumier, Chefredakteur Schweizer Standpunkt, und
Jacques Baud an der Tagung vom 29./30. Juli 2022.

Im Gespräch mit Jacques Baud und Gabriel Galice

von Robert Seidel

(18. August 2022) Im Rahmen der Sommer-Tagung des «Schweizer Standpunkt» am 29. und 30. Juli 2022 referierten Jacques Baud, Oberst iGst, und Gabriel Galice, Präsident des Internationalen Instituts für Friedensforschung in Genf (GIPRI) zum Thema «Krieg in der Ukraine: aktuelle Lage und globale Auswirkungen». Beide vertreten begründet Positionen, die durchaus auch ausserhalb des Mainstreams stehen können.

Konflikt ist für die Ukraine militärisch nicht gewinnbar

Jacques Baud,* der über breite internationale Erfahrungen in den militärischen und nachrichtendienstlichen Bereichen verfügt – ein Fachexperte im besten Sinne des Wortes –, stellte den Konflikt in der Ukraine aus verschiedenen Perspektiven dar. Er betonte, dass er bei seinen Recherchen für diesen Vortrag allein auf westliche Quellen zurückgreift.

Zu Beginn des Vortrages hob Jacques Baud einige Eckpunkte hervor, die oft in Vergessenheit gerieten oder verschwiegen würden, die aber den Blick auf den Konflikt in den notwendigen Kontext stellten:

Der Staatsstreich in Kiew (Maidan) am 23. Februar 2014 führte zu einem Aufstand des russischsprachigen südöstlichen Teils der Ukraine, den die Rebellen «Noworossija» nennen. Seine Bezirke distanzierten sich damals von der nach dem Kiever Staatsstreich installierten Putschregierung. Ein Teilgebiet, nämlich der Donbass, erklärte sich autonom innerhalb der Ukraine und verteidigte sich militärisch. Die Aufstände in den anderen Gebieten der «Noworossija» wurden von der ukrainischen Armee niedergeschlagen, was während acht Jahren zu einem «Konflikt auf Sparflamme» führte.

Ukraine – völkerrechtliche Abkommen ignoriert

Internationale Bemühungen, die die Rechte der russischsprachigen Bevölkerung wahren sollten – das Minsker Abkommen I und das Minsker Abkommen II – wurden von der Kiewer Administration offen und wissentlich ignoriert. Das betreffe insbesondere den Sprachstatus und die Gewährung eines Autonomiestatuts. Die OSZE überwachte den Waffenstillstand an der Kontaktlinie zwischen den sich autonom erklärenden Donbass-Gebieten und der ukrainischen Armee. Von 2014 bis Mitte Februar 2022 starben rund 14 000 Personen als Folge der militärischen Angriffe der ukrainischen Armee.

Am 24. März 2021 (!) erliess Wolodymyr Zelensky per Dekret die militärische Rückeroberung der Krim und der südlichen Landesteile. Vom 16. Februar 2022 an konnte die OSZE einen stark zunehmenden Beschuss des Donbass durch die ukrainischen Streitkräfte beobachten – also vor der russischen Intervention. Am 24. Februar kam es schliesslich auf Ersuchen der beiden selbsternannten Donbass-Republiken zum militärischen Eingreifen der russischen Armee.

Es fanden zwei Vorstösse statt: erstens im Norden der Nebenstoss auf die Hauptstadt Kiew um dort ukrainische Streitkräfte zu binden und zweitens im Osten der Hauptstoss zur Einkreisung und Vernichtung des vor dem Donbass-Gebiet stehenden Grossteils der ukrainischen Armee. Der grösste Teil der ukrainischen Artillerie und Luftwaffe wurde zu Beginn der Intervention zerstört. Die westlichen Waffenlieferungen, wenn sie überhaupt ankämen, verlängerten den Krieg, führten aber nicht zu einer Wende, hielt Jacques Baud fest.

Flexibles Vorgehen der russischen Armee

Jacques Baud erklärte, dass die ukrainische Armee schon lange vor Februar 2022 vor dem Donbass in Stellung gegangen sei. Insgesamt umfasste die ukrainische Armee damals rund 700 000 Soldaten. Die russischen Streitkräfte bestanden aus rund 100 000 Soldaten und etwa 80 000 Milizsoldaten aus den Volksrepubliken Donezk und Lugansk. Die personelle Unterlegenheit der russischen Armee ersetzte diese durch Mobilität und die Schaffung von lokaler und zeitlicher Überlegenheit.

Der Referent präzisierte, dass der russische Vorstoss nach Kiew stattgefunden habe, um die dortigen ukrainischen Kräfte zu binden und sie vom Südosten fernzuhalten. Ziel dieses Vorstosses war nicht, die Hauptstadt zu erobern, wie es von den westlichen Mainstreammedien behauptet wurde. So setzte Russland bei Kiew denn auch wesentlich weniger Streitkräfte ein als im Donbass.

«Entmilitarisierung» und «Entnazifizierung»

Das Vorgehen der russischen Armee sei von Anfang an nicht auf den maximalen Gewinn an Territorium ausgelegt gewesen, sondern hätte immer den beiden offiziell erklärten Zielen entsprochen: Entmilitarisierung und Entnazifizierung.

Diese Ziele seien im Westen nicht verstanden worden. Entmilitarisierung bedeute für Russland die Neutralisierung der Bedrohung des Donbass. Der andauernde Beschuss der Zivilbevölkerung, der Infrastrukturen und der sozialen Einrichtungen musste verhindert werden.

Entnazifizierung bedeutet die Neutralisierung der freiwilligen neonazistischen Kampfgruppen der ukrainischen Streitkräfte und die juristische Aufarbeitung ihrer Verbrechen. Diese Freiwilligen waren unmittelbar nach dem Euromaidan bei den ukrainischen Streitkräften angeheuert worden, um die geringe Kampfkraft der regulären Streitkräfte zu kompensieren.

Die Aussage, dass diese Gruppen neonazistisch seien, belegte Jacques Baud minutiös – mit westlichem Quellenmaterial! Einigendes Kennzeichen dieser Gruppen sei ihr ausgesprochener Russenhass, ihre rassistische Ideologie einer reinen ukrainischen Rasse, die sich gegen alle anderen ukrainischen Bevölkerungsminderheiten wie Ungaren, Rumänen usw. richteten, die Verherrlichung von Gewalt und eine Bewunderung für das Dritte Reich.

Neonazis im Westen militärisch ausgebildet

Pikanterweise würden Teile dieser neonazistischen Gruppen schon länger in den USA, in Kanada, in Frankreich und in Grossbritannien geschult. In den USA warnten Geheimdienste davor, dass diese Neonazis auch im eigenen Land tätig werden könnten (Anschlag Charlottesville 2017). Militärisch gesehen seien diese «Truppen» nicht manöverfähig. Sie würden in den Ortschaften eingesetzt. Die Kämpfe seien dadurch härter und statischer. Für Aussenstehende eindeutig erkennbar seien die neonazistischen Verbände an ihren Tätowierungen – zum Beispiel als sie sich im Azow-Stahlwerk in Mariupol ergaben.

Waffenlieferungen haben keine entscheidende Wirkung

2014 dienten noch viele russischsprachige Ukrainer in der ukrainischen Armee; die Kampfmoral der Armee war nicht sehr hoch, denn diese Truppen wollten nicht ihre Mitbürger bekämpfen. Dies führte in den ersten Kriegswochen im Februar und März 2022 dazu, dass ganze ukrainische Truppenteile sich mit ihrer Ausrüstung dem Widerstand in den Volksrepubliken Donezk und Lugansk anschlossen.

Im Süden der Ukraine heissen heute grosse Teile der Bevölkerung die Russen willkommen. In diesen Regionen wurden 16 neue Freiwilligenbrigaden gebildet, um die russischsprachige Koalition, bestehend aus der russischen Armee und den Milizen der Republiken Donezk und Lugansk, zu unterstützen.

In der Konsequenz heisse dies, dass die russische Armee Schritt für Schritt die ukrainische Armee mit militärischen Mitteln auflöse. So zerstören die Streitkräfte der russischsprachigen Koalition nach und nach die ukrainischen Streitkräfte. Die ukrainische Armee, die schlecht geführt wurde und die Kunst des operativen Manövrierens nicht beherrschte, beging die gleichen Fehler wie 2014 und war nicht in der Lage, wirksam zu kämpfen. Doch jeder weitere Tag bedeute mehr Tote, mehr Leid und mehr Zerstörung.

Im März waren Zelenskys Vorschläge für Verhandlungen von den Russen positiv aufgenommen worden. Sie wurden jedoch aktiv und absichtlich von der EU und Grossbritannien sabotiert. Kaum hatten die Ukrainer wie im Februar ihr Interesse an Verhandlungen bekundet, versprach Ursula von der Leyen, die Präsidentin der Europäischen Kommission, Kiew massive Waffenlieferungen. Der britische Premier Boris Johnson reiste persönlich in die Ukraine, um Verhandlungen zu verhindern und mit neuen Waffenlieferungen den Krieg anzuheizen.

Europa handelt «idiotisch»

Zusammenfassend wies Jacques Baud auf die falsche Lagebeurteilung durch die westlichen Entscheidungsträger hin. Von aussen gesehen, sei «idiotisch» gehandelt worden: Waffenlieferungen haben keine entscheidende Wirkung und verleiten die Ukraine nur dazu, einen kostspieligen Krieg zu verlängern. Die EU hat ihrerseits die Gelegenheit verpasst, eine Schiedsrichterrolle zu spielen, sie hat stattdessen als Akteur in diesem Konflikt agiert. Die Sanktionen, die sie gegen Russland verhängt hat, tendieren dazu, sich gegen sie selbst zu wenden. Das Krisenmanagement war impulsiv und emotional und liess es an Distanz, Überlegung und einer mittel- und langfristigen Vision fehlen.

*  Jacques Baud hat in Genf Internationale Sicherheit und Wirtschaft studiert. Er ist Oberst im Generalstab der Schweizer Armee und arbeitete für den Schweizerischen Strategischen Nachrichtendienst. In Brüssel und in der Ukraine nahm er während mehreren Jahren im Auftrag der Nato verschiedene Funktionen wahr. Für die UNO-Friedenssicherung war er vor allem in afrikanischen Ländern im Einsatz. Er ist Autor zahlreicher Bücher und Artikel über Nachrichtendienste, asymmetrische Kriegsführung, Terrorismus und Desinformation. Seine in unabhängigen Medien publizierten aktuellen Analysen zur Ukrainekrise finden in Europa und darüber hinaus grossen Anklang.
Gabriel Galice an der Tagung vom 29./30. Juli 2022.

Die Sicherheitsinteressen Russlands werden ignoriert

Gabriel Galice,** Friedensforscher und Präsident des Internationalen Institut für Friedensforschung in Genf (GIPRI), nahm die Vorgeschichte des Ukraine-Konflikts seit dem Fall der Berliner Mauer in den Blick. Eingangs stellte er fest, es gelte immer die Geschichte und die Einstellungen aller Beteiligten genau kennenzulernen, um Wege aus einem Konflikt zu finden.

Nato-Osterweiterung entgegen aller Abmachungen

Entgegen aller 1989/90 getroffenen Absprachen mit der Sowjetunion bzw. Russland habe die Nato schrittweise ihren Einflussbereich über die Grenzen Deutschlands hinaus nach Osten bis hin zur russischen Grenze vorgeschoben. Motor dieser Erweiterungen seien die USA. Mit diesem Vorgehen habe man die Sicherheitsinteressen Russlands immer wieder bewusst übergangen. Schliesslich sei die Missachtung des im Rahmen der UNO völkerrechtlich verbindlich ausgehandelten Minsker-Abkommen II für Russland zur existenziellen Bedrohung geworden. Die russische Regierung habe im Dezember 2021 die USA und die Nato aufgefordert, Sicherheitsgarantien zu geben, was diese ignorierten.

Brzezinski und Friedman als ideologische «Vordenker»

Gabriel Galice stellte zwei einflussreiche ideologische «Vordenker» dieser aggressiven US-Politik gegen Russland vor: Zbigniew Brzezinski und George Friedman. Brzezinski, persönlicher Berater mehrerer US-Präsidenten, entwarf eine Strategie zur Kontrolle Eurasiens. Ein zentraler Punkt dabei ist die Kontrolle der Ukraine («The Grand Chessboard. American Primary and Its Geostrategic Imperatives» [«Die einzige Weltmacht. Amerikas Strategie der Vorherrschaft»], 1997).

Friedman wiederum betonte das Ziel, eine Zusammenarbeit zwischen Deutschland und Russland zu verhindern, um selbst Weltmacht Nummer eins zu bleiben («The Next Decade: What the World Will Look Like», 2010). Das US-Vorgehen der vergangenen Jahrzehnte entspreche den gedanklichen Vorgaben dieser beiden einflussreichen «Vordenker» und könne das Vorgehen der USA gegenüber Russland in der Ukraine erklären.

Anknüpfend an den Diskussionsbeitrag von Jacques Baud verwies Gabriel Galice auf die Kontinuität nazistischer und neonazistischer Bewegungen während und nach dem Zweiten Weltkrieg in verschiedenen europäischen Staaten, die häufig ausgeblendet, jetzt aber virulent seien.

USA – permanenter Krieg um die eigene Vorherrschaft

In einer breiteren Auslegeordnung griff Gabriel Galice auf eine Veröffentlichung zweier chinesischer Militärexperten zurück. (Qiao Liang und Wang Xiangsui, «Unrestricted Warfare», 1999. Siehe auch: «Schweizer Standpunkt» vom 9. August 2022). Die Autoren prognostizieren eine Erweiterung der Kriegsführung auf nichtmilitärische Bereiche, hin zu einem permanenten gezielten Kampf im wirtschaftlichen, technologischen und kommunikativen Bereich.

Internationale Sicherheitsarchitektur aufbauen

Anstatt nach dem Fall der Berliner Mauer bzw. des Eisernen Vorhanges und dem Zerfall der Sowjetunion auf eine internationale Sicherheitsstruktur hinzuarbeiten, wie es in den KSZE-Verhandlungen vorbereitet war, verfolgten die USA das Ziel, ihre Vormachtstellung auszubauen und stellten ihre eigenen «vitalen» Interessen über die Interessen aller anderer Staaten.

Dabei bilde ihr Vorgehen eine Linie: Nato-Osterweiterung, die Kriege in Jugoslawien, Afghanistan, Irak, Libyen, Syrien und die «bunten Revolutionen» in Georgien, der Ukraine und Kirgisien. Problematisch ist, dass die USA nicht vor dem Versuch zurückschreckten, die Nato 2008 als militärischen Arm der UNO zu etablieren. Seit 2011 wird ihr Vorgehen in der UNO jedoch wieder durch das Veto von China und Russland gebremst.

Kuba auch nach 60 Jahren unabhängig

Gabriel Galice erinnerte die Zuhörer daran, dass es den USA auch nach 60 Jahren nicht gelungen sei, einen «Regime Change» in Kuba herbeizuführen. Das könne zuversichtlich stimmen. Heute gehe es weiter darum, Einfluss auf die Entscheidungsträger unserer Länder auszuüben und sich aktiv für Frieden und Sicherheit einzusetzen. Dazu gelte es auch, die gewählten Volksvertreter vermehrt in die Pflicht zu nehmen.

** Gabriel Galice ist Ökonom und Politologe. Er ist Präsident des Genfer Institut für Friedensforschung (GIPRI). Er hat an einer Universität in Algerien gelehrt und führte in den 1990er-Jahren Bildungs- und Beratungsmissionen in postkommunistischen Ländern Osteuropas. Seine zwei Hauptwerke sind «Du Peuple- Nation – essai sur le milieu national de peuples d’Europe» (2002), in dem er die Bildung der nationalen Identitäten in Europa untersuchte, und «Penser la République, la guerre et la paix sur les traces de Jean-Jacques Rousseau», zum Staatsverständnis von Rousseau. Publiziert hat er auch zahlreiche Artikel über die Nato, Krieg und Frieden und die Ukraine.

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