Auf der Suche nach Partisanen auf der Krim

Wie gegen Russland Stimmung gemacht wird

von Jozef Banáš*

(6. September 2021) Alle vernünftigen Menschen mit gesundem Verstand verfolgen mit wachsender Sorge die Zunahme der Russophobie und den Strudel der Desinformation über Russland, seinen Präsidenten und die russischen Aktivitäten im In- und Ausland.

Ich habe gerade meine Übersetzungen von Stefan Zweigs (1881–1942) Buch «Vor dem Sturm. Europa zwischen 1900 und 1914» beendet, in dem der berühmte österreichische Schriftsteller die Gründe für den Ausbruch des Ersten Weltkriegs beschreibt. Als einen der Gründe nannte er die weit verbreitete Russophobie in Westeuropa, vor allem im zunehmend kriegslüsternen Deutschland. Wer sich in Österreich-Ungarn positiv über Russen, Serben und Slawen im Allgemeinen äusserte, wurde sofort als Russophiler, als gefährlicher panslawistischer Verschwörer, als Verbreiter von Falschnachrichten bezeichnet und öffentlich gemieden. Die Mehrheit der Bürger aber behielt ihre Gedanken für sich; sie wollten nur Ruhe und Frieden und sagten nichts, und wir alle wissen, wie das endete...

Krimbewohner haben Abneigung gegen jede Besatzungsmacht

Ich werde nicht über das Verfahren und die technischen Einzelheiten des Referendums vom März 2014 sprechen, sondern über einen grundlegenden Aspekt: Hat das Referendum den Willen der auf der Krim lebenden Menschen ausgedrückt oder nicht? Jene Krimbewohner, deren Väter, Grossväter und Urgrossväter nach den aufeinanderfolgenden Invasionen ihres Landes in der Vergangenheit eine angeborene Abneigung gegen jede Besatzungsmacht, gleich welcher Herkunft, hatten. Und die Geschichte dieser Halbinsel ist reich an Besatzern – erinnern wir uns nur an die Türken, Franzosen, Briten und Deutschen. Von dem Moment an, als eine Besatzungsmacht ihren Fuss auf den Boden der Krim setzte, begannen die Krimbewohner sofort, eine Partisanen-Widerstandsbewegung zu organisieren. Von allen Seiten höre ich, dass die Krim besetzt ist. Die letzten Invasoren waren die deutschen Nazis im Jahr 1941, und diese Besetzung dauerte bis 1944. Heute, so die Mainstream Meinungs-Strömungen in Politik und Medien, ist die Krim wieder besetzt. Von den Russen. Und das schon seit fünf Jahren.

Jozef Banas (Bild
jozefbanas.com)

* Jozef Banáš, geboren 1948 in Bratislava, Tschechoslowakei, ist slowakischer Bestsellerautor und Politiker. Er studierte Aussenhandel an der Hochschule für Wirtschaftswissenschaften in Bratislava. Er war im Ministerium für Aussenhandel tätig und wirkte von 1977 bis 1983 als Direktor des Presse- und Informationszentrums Bratislava. Von 1983 bis 1988 war er Presseattaché in der tschechoslowakischen Botschaft in Ost-Berlin, von 1990 bis 1992 Gesandter in der Botschaft der CSFR in Wien.

1992, nach der Teilung der Tschechischen und Slowakischen Föderativen Republik, arbeitete er als Manager in Leasingfirmen in Wien und Bratislava.

2002 wurde er für vier Jahre in den Nationalrat der Slowakischen Republik gewählt (ANO, Allianz des neuen Bürgers). Einen grossen Erfolg in der parlamentarischen Diplomatie erzielte er, als er als erster slowakischer Abgeordneter überhaupt zwei Ständige Delegationen des Nationalrates gleichzeitig leitete – die Ständige Delegation in der Parlamentarischen Versammlung des Europarates und in der Parlamentarischen Versammlung der NATO.

Seit Jozef Banáš sich 2006 hauptberuflich dem Schreiben zugewandt hat, steigt die Popularität seiner Bücher stetig an. Seine kreative Heimat ist die Slowakei, ein Land mit fünf Millionen Einwohnern. Banáš hat ein vielfältiges literarisches Schaffen. Unter anderem schrieb er fünf Drehbücher für Film und Fernsehen und drei Theaterstücke, die aufgeführt wurden. Sein dokumentarischer Roman «Zona nadšenia» [Jubelzone] – die dramatische Geschichte aus der Zeit der politischen Turbulenzen in Mittel- und Osteuropa von 1968 bis zur Gegenwart – ist das meist übersetzte slowakische literarische Werk. Die Bücher von Banáš wurden in zehn Sprachen übersetzt, einschliesslich russisch, deutsch, Hindi und arabisch.

Aufgewachsen in der kommunistischen Tschechoslowakei und Zeuge des Einmarsches des Warschauer Paktes in den späten 60er-Jahren sowie des Sturzes des kommunistischen Regimes 20 Jahre später, schöpft Banáš aus seiner langjährigen Erfahrung in Wirtschaft, Diplomatie und Politik. Er fesselt den Leser durch die geschickte Verbindung von Fakten und Fiktion und bringt ihn durch eine packende Geschichte nah an die realen Ereignisse heran. Alle seine Werke, auch wenn sie sich mit unterschiedlichen sozialen, politischen oder religiösen Themen beschäftigen, haben eines gemeinsam: die Suche nach der Wahrheit. Dabei blickt er hinter die Kulissen, weist auf Heuchelei hin und wirft Fragen auf, die den Leser überraschen.

Für sein literarisches Werk wurde Jozef Banáš mit mehreren renommierten Preisen ausgezeichnet. Er lebt mit seiner Frau in Bratislava. Er hat zwei Töchter und eine Enkelin.

Quelle: https://www.jozefbanas.com; https://de.wikipedia.org/wiki/Jozef_Banáš

Grafik: «Schweizer Standpunkt»/mt, Quelle wikipedia

Eingliederung der Krim in Russland – eine Annexion?

Alles begann mit dem Referendum vom 16. März 2014, das die Eingliederung der Krim in die Russische Föderation zur Folge hatte. Für ein Urteil darüber, ob die Eingliederung der Krim in Russland eine Annexion war, muss man, denke ich, mit einer Definition von Annexion beginnen:

Nach dem Völkerrecht ist eine Annexion die gewaltsame Aneignung eines Territoriums durch einen Staat auf Kosten eines anderen Staates gegen den Willen der Bewohner dieses Territoriums, wodurch das Selbstbestimmungsrecht der Völker verletzt wird.1 Nur um das klarzustellen, wiederhole ich: gegen den Willen des Volkes.

Im Laufe der Geschichte haben viele Annexionen gegen den Willen des annektierten Volkes stattgefunden. Zu den bedeutendsten gehören die Annexion von Bosnien und Herzegowina durch Österreich-Ungarn im Jahr 1908 und Hitlers Annexion des Protektorats Böhmen und Mähren; ferner Japans Annexion Koreas, Chinas Annexion Tibets und Israels Annexion Ost-Jerusalems und der Golanhöhen. Die Annexion Eritreas durch Äthiopien führte zum Unabhängigkeitskrieg in Eritrea. Die Annexion der Westsahara durch Marokko und Mauretanien führte zur Gründung der bewaffneten Widerstandsbewegung Polisario.

Alle diese Annexionen haben eines gemeinsam: Die Bewohner wehrten und wehren sich mit militärischem Widerstand gegen die Besatzer. Und hier haben wir das entscheidende Kriterium, um die Eingliederung der Krim in Russland als Annexion zu bezeichnen: den militärischen Widerstand oder eine andere Form der Ablehnung der Besatzungsmacht durch die einheimische Bevölkerung. Da ich fünf Jahre nach dem Referendum noch nichts über einen einzigen Akt antirussischen Widerstands auf der Krim gelesen hatte, begann ich, die Formulierung «Annexion gegen den Willen des Volkes» etwas seltsam zu finden. Die einzige Erklärung war, dass die slowakischen Journalisten mit Blick auf Präsident Putin taktvoll die Augen vor dem antirussischen Widerstand auf der Krim verschliessen.

Und ich war auch erschrocken: Hatte ich aus Unachtsamkeit den Moment verpasst, als Washington, Brüssel und Berlin ihre Meinung änderten und das Referendum für rechtmässig erklärten? Bis jetzt habe ich nichts in den Zeitungen gefunden, und deshalb sagte ich mir: Wenn unsere investigativen Journalisten nicht dorthin gehen, um nachzusehen, werde ich selbst gehen. Wie man so schön sagt: Es ist besser, etwas einmal zu sehen, als tausendmal davon zu hören.

Geschichte der Krim

Die Leute haben mich gewarnt und versucht, mich von der Reise abzubringen. Ich habe keinen Grund, meine Reise auf die Krim geheim zu halten; im Gegenteil, ich denke, dass jeder Versuch, das Licht der Wahrheit auf die Situation zu leuchten und die Widrigkeiten zu verringern, beiden wunderbaren slawischen Nationen hilft – den Ukrainern und den Russen. Ich mag beide; in beiden Ländern habe ich Leser und ich werde nie das schöne Lob vergessen, das zwei führende Schriftsteller über meinen Roman Zone des Jubels (Zona nadšenia) aussprachen: Der ukrainische Schriftsteller Juri Scherbak und der Star der russischen Literatur Juri Poljakow, Chefredakteur der Puschkinschen Literaturnachrichten (Literaturnaya gazeta). Heute stehen diese beiden Männer, die ich mag und schätze, auf entgegengesetzten Seiten der Barrikaden. Wer hat das zugelassen? Wann ist es passiert? Wer hat diese beiden fantastischen Männer getrennt? Wer hat die Russen und Ukrainer getrennt? Und wurden sie wirklich getrennt, oder scheint es nur so, im Hinblick auf die Reden der Mainstream-Politiker und Journalisten?

Was geschah und geschieht nun mit den armen besetzten Bewohnern der Krim? Die einen sagen, die Krim gehört zur Ukraine, die anderen behaupten, sie gehört zu Russland. Die Krim hat schon vielen gehört, den Russen, den Ukrainern, aber lange vor ihnen gehörte sie den Kimmeriern, den Goten, den Griechen (Euripides' Drama Iphigenie bei den Tauriern spielt auf der Krim, Tauri ist der griechische Name für die Krim), den Römern, den Byzantinern, den Italienern und den Tataren der Goldenen Horde. Im Jahr 1243 eroberten die Horden von Dschingis Khan die Halbinsel und besetzten sie bis nach der Gründung des Krim-Khanats 1443. Es folgten die Proto-Bulgaren (Vorläufer des heutigen Bulgarien), Chasaren und Türken. Ab 1783 beherrschten die Russen die Krim und verloren im Krimkrieg (1853–1856) fast die Halbinsel und die Vorherrschaft über das Schwarze Meer.

Dennoch wuchs der russische Einfluss auf der Krim; die Halbinsel wurde zum Sommersitz prominenter russischer Politiker und Royals (der Zar unterhielt einen Palast in der Nähe von Jalta), sowie von Künstlern, Unternehmern und der russischen Bohème. Die ethnische Opposition war immer vielfältig, und manchmal wurde sie auch gewaltsam verändert. In den drei Jahren der deutschen Besatzung während des Zweiten Weltkriegs ermordeten die Deutschen die Mehrheit der jüdischen Einwohner, und nach dem Krieg vertrieb Stalin Bulgaren, Tataren, Griechen und Armenier von der Krim, basierend auf dem Prinzip der Kollektivschuld. Die Tataren litten am meisten unter ihrer Kollaboration mit den deutschen Besatzern, denn Tausende von ihnen kämpften auf der Seite der deutschen Nazis gegen die Sowjetunion, die das Krim-Khanat erneuerte.

Die Bewohner entscheiden über die Zugehörigkeit

Die Behauptung, die Krim sei immer russisch gewesen, ist also falsch; die Halbinsel begann erst nach dem Zweiten Weltkrieg stark russifiziert zu werden. Aber ab 1954 gehörte sie zur Ukraine. In jenem Jahr schenkte die Sowjetunion, regiert vom ukrainischen Russen Chruschtschow, die Krim der Ukraine. Wenn ich mich richtig erinnere, als Ukrainische Sozialistische Sowjetrepublik. Somit gehörte die Krim gleichermassen den Ukrainern, Russen, Esten und Turkmenen, allesamt Bürger der grösseren Sowjetunion.

Man kann nicht umhin zu beobachten, wie seltsam es ist, dass demokratische Politiker und Journalisten heute stur die Entscheidung des kommunistischen Führers Chruschtschow verteidigen... Jeder normale Mensch erkennt sicherlich an, dass der objektivste Faktor, der entscheiden sollte, wem die Krim gehört, ihre Bewohner sein sollten. Und sie haben entschieden. Am 16. März 2014 wurde ein Referendum abgehalten. 83,1 % der Einwohner der Krim nahmen daran teil, und von diesen stimmten 95,77 % für die Integration in die Russische Föderation. Bei dem separaten Referendum in Sewastopol stimmten 95,6 % von 89,5 % der Bevölkerung für die Integration.

Ich sollte diejenigen, die an den Ergebnissen der Referenden zweifeln, daran erinnern, wie die Vereinigten Staaten von Amerika entstanden sind: Die Unabhängigkeitserklärung von Grossbritannien im Jahr 1776 war einseitig. Zu denken, dass die Krim daher an die Ukraine zurückgegeben werden sollte, ist ein ebenso absurder Gedanke, wie zu denken, dass die USA an Grossbritannien zurückgegeben werden sollten... Seit der Zeit, als Katharina die Grosse Russland regierte, ist es offensichtlich, dass die Krim und insbesondere ihr Hafen Sewastopol von zentraler strategischer Bedeutung für Russland waren. Sewastopol, offiziell die Stadt der Helden (gorod geroy) genannt, ist ein strategischer russischer Hafen, der über den Bosporus, die Dardanellen und das Mittelmeer Zugang zu den Weltmeeren gewährt. Die Halbinsel Krim ist nicht nur ein strategischer Ort, sondern buchstäblich ein Symbol für Russland.

Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion im Jahr 1991 wachten die Krim und die Mehrheit ihrer russischen Bewohner eines Morgens auf und hatten innerhalb einer Nacht keinen direkten Kontakt mehr zu Russland. Die verschiedenen ukrainischen Regierungen waren mehr damit beschäftigt, das Vermögen des Landes zu plündern, als vernünftig in die wirtschaftliche Entwicklung der Ukraine zu investieren, geschweige denn die Krim zu entwickeln, die von Bürgern russischer Herkunft dominiert wurde.

Im Jahr 2005 traf ich den ukrainischen Präsidenten Viktor Juschenko, der uns sein Flugzeug für unsere Reise nach Sewastopol anbot. Russland und die Ukraine hatten einen Vertrag über die Nutzung des Hafens von Sewastopol geschlossen. Während des festlichen Mittagessens mit dem Kommandeur der ukrainischen Flotte an Bord des Zerstörers Heytman Zagaidachny hatte ich die Gelegenheit, mit den höchsten Offizieren der ukrainischen Marine zu sprechen. Nach einer Weile fragte mich der französische Senator Pierre Lellouche, der Vorsitzende unserer Delegation und Präsident der Parlamentarischen Versammlung der NATO, ob ich Ukrainisch spreche, da ich mit unseren Partnern spreche. Ich antwortete nein; ich sprach mit den ukrainischen Offizieren Russisch. Und mit Lellouche haben sie auch auf Russisch kommuniziert; ich habe übersetzt.

Besuch bei den Tataren

Ich war erst kürzlich wieder auf der Krim, mit dem festen Plan, Beweise für den Widerstand der Einwohner gegen die Eingliederung in Russland zu finden. Nach der Landung auf dem rekonstruierten Flughafen der Hauptstadt Simferopol fuhren wir gleich nach Bachtschysaray, dem Zentrum der Krimtataren, wo ich aufgrund der Geschichte der Tataren die heftigsten antirussischen Aktivitäten und Haltungen erwartete. Der Tatare Ruslan nahm uns mit auf einen dreistündigen Ausflug in die Berge und zu Sehenswürdigkeiten in einem Jeep. Ich erwartete, dass ich Partisanenverstecke sehen würde, aber ich sah nichts. Nicht einmal in der Nähe des wildesten und abgelegensten Gebirges der Krim, im tatarischen Bachtschysaray, fanden wir irgendwelche Beweise für antirussische Aktivitäten. Wir fuhren nach Chansaray, einem Palast der tatarischen Khane.

Dominierend in diesem Komplex ist der Tränenbrunnen, der nach Puschkins Besuch im Jahr 1820 berühmt wurde; er lobte ihn in seinem Gedicht Der Brunnen von Bachtschysaray. Was die mächtigen Khans nicht schafften, schaffte Puschkin. Das kann auch die Macht der Poesie sein.

Wie ich erwartet hatte, brachten einige einheimische Tataren öffentlich ihre Frustration darüber zum Ausdruck, als Volk zweiter Klasse auf der Halbinsel betrachtet zu werden. Sie können den Russen die gewaltsame Vertreibung und den Tod von Zehntausenden von Tataren in der stalinistischen Zeit nicht verzeihen. Aber auch die Krim-Russen können den Tataren ihre verräterische Kollaboration mit der deutschen Besatzung nicht verzeihen. Viele Tataren haben aber auch auf der Seite der Sowjetunion gekämpft. Unter den Dutzenden von Bürgern, mit denen wir auf der Krim gesprochen haben, waren die Tataren zweifellos die kritischsten. Sie räumten ein, dass, seit die Krim wieder russisch ist, ihre Gehälter gestiegen sind, aber auch andere Bewohner der Krim arbeiten ausserhalb der Halbinsel, vor allem in Russland, aber auch in EU-Ländern, vor allem in Polen. Vor allem Firmen aus Russland, so die kritischen Tataren, gewinnen öffentliche Ausschreibungen und holen ihre Mitarbeiter auf die Halbinsel und senken damit die Chancen der Einheimischen, Arbeit zu finden.

Sie waren offen und kritisch, aber als wir sie fragten, ob sie gerne in die Ukraine zurückkehren würden, gingen ihre Meinungen auseinander. Während unserer Diskussion brach eine junge tatarische Frau in Gelächter aus und sah die Männer an: «Hauptsächlich gefällt Euch nicht, dass man unter den Russen Budgets erstellen, Rechnungen schreiben und Steuern zahlen muss, was unter ukrainischer Herrschaft unüblich war...»

Wir sassen mit Einheimischen in einem schönen rustikalen Restaurant. Am Tisch neben uns schenkte der Kellner Wein in die «Stakany» (russisch für «Gläser») von etwa zehn Männern ein. Die Tataren sind Muslime, und Alkohol wird in Restaurants nicht verkauft. Aber man kann seinen eigenen mitbringen, und der Kellner holt bereitwillig Gläser. Vor dem Kosten standen die Männer auf und riefen dreimal «Ura, ura, ura Rossya!» Zwei von ihnen stiessen mit ihren Gläsern an, es waren also eindeutig Tataren, aber sie stimmten in das Lob Russlands ein.

Sewastopol. Statuen und Gedenktafeln erinnern fast auf Schritt und
Tritt an das Heldentum der Verteidiger dieser Stadt. (Alle Fotos jb)

Besuch in Sewastopol

Enttäuscht, dass wir im tatarischen Bachtschysary keine antirussische Opposition vorfanden, fuhren wir nach Sewastopol. Statuen und Gedenktafeln erinnern fast auf Schritt und Tritt an das Heldentum der Verteidiger dieser Stadt: Einige erinnern an den Krimkrieg, also an die Allianz der Osmanen, Briten und Franzosen gegen Russland. Aber die meisten Kriegsdenkmäler sind dem Zweiten Weltkrieg gewidmet.

Hätten wir diese Stadt nicht besucht, hätten wir nicht verstanden, warum die Russen Sewastopol und die Krim niemals aufgeben werden. In der Schlacht um die Befreiung der Stadt von den Nazis starben 170 000 sowjetische Soldaten und 40 000 wurden verwundet. Hätte die US-Diplomatin Victoria Nuland Sewastopol besucht, bevor sie begann, den Maïdan in Kiew zu organisieren, hätte sie sich selbst, ihrem Land, vor allem aber den Ukrainern und Russen, enorme Probleme ersparen können.

Wir setzten unsere Reise zum Golf von Balaklawa fort, wo uns der strategische Stützpunkt der sowjetischen U-Boot-Flotte gezeigt wurde, den Russland nun erneuern und vergrössern will. Wir gingen in diese fast vergessenen kleinen Strassen in der Hoffnung, wenigstens ein Stück Papier zu finden, das von einem antirussischen Flugblatt abgerissen wurde, oder vielleicht Graffiti mit antirussischen oder Anti-Putin-Parolen. Wieder gab es nichts.

Tschechow Haus in Jalta: Hier schrieb der kränkelnde
Tschechow seine berühmten «Drei Schwestern» und
«Der Kirschgarten».

Tschechows Jalta – ein Potemkisches Dorf?

Von Sewastopol, wo Tolstoi vom Soldaten zum berühmtesten russischen Schriftsteller überhaupt wurde, fuhren wir weiter zu Tschechows Jalta, das wie die französische Riviera aussah. Hier schrieb der kränkelnde Tschechow seine berühmten «Drei Schwestern» und «Der Kirschgarten». In Tschechows Haus zu sitzen, im Schatten der Bäume, von denen er die meisten selbst gepflanzt hatte, war eines der denkwürdigsten Erlebnisse meiner Krimreise.

Ich beobachtete Menschen in Restaurants, Cafés und am Strand, führte Gespräche mit ihnen. Sie entspannten sich, assen und tranken, und nachts tanzten und sangen sie in Bars, aber auch auf den Boulevards, wo Bands spielten, Zirkusartisten auftraten und Tarot-Karten gelesen wurden.

Jalta. Der früher zaristische Liwadija-Palast, wo im Februar
1945 Stalin, Churchill und Roosevelt über das Schicksal der
Welt entschieden

Mir kam der Gedanke, dass es sich bei all diesen Menschen, die sich amüsierten und lachten, um speziell ausgebildete russische Agenten handeln könnte, die Theater spielten wie der berühmte Fürst Potemkin, der der Zarin Katharina der Grossen die Fassaden schöner Gebäude gezeigt hatte, die, von hinten betrachtet, nur Holzkonstruktionen waren, wie Bühnenkulissen.

Deshalb bin ich, um mich zu vergewissern, um all diese Dutzende von noch nicht fertiggestellten Luxushotels, Schwimmbädern, Wohnhäusern und Sportplätzen herumgegangen – sie waren echt. Genauso wie die Bulldozer und Kräne. Das liess mich aufhören, das Bild von den unglücklichen Krimbewohnern unter der Besatzung zu glauben. Wir hielten am ehemaligen zaristischen Palast von Liwadija, wo im Februar 1945 Stalin, Churchill und Roosevelt über das Schicksal der Welt entschieden.

Winston Churchill, Franklin Roosevelt und Josef Stalin, die
drei Verantwortlichen für die Aufteilung der Welt um den
Eisernen Vorhang

Hunderttausende ukrainische Touristen

Von Jalta fuhren wir weiter entlang der Küste nach Aluschta, und überall bot sich uns der gleiche Eindruck. Die besetzten Krimbewohner – anstatt antirussischen Widerstand zu organisieren – tummelten sich an den Stränden. Also verliessen wir Aluschta und fuhren nach Norden in die Berge, um den Verdacht zu vermeiden, dass wir nur in den exponierten südlichen Teil der Halbinsel fahren würden. Was mich fast umhaute, waren die ukrainischen Touristen, denen wir begegneten. Angeblich haben im letzten Jahr mehr als eine Million Touristen aus der Ukraine auf der Krim Urlaub gemacht.

Wir verlegten unseren Standort nach Feodosia, wo uns im historischen Grand Hotel Astoria eine, wie ich finde, besondere und fast schon typische Überraschung erwartete. Auf dem Platz gegenüber dem Hotel stand eine grosse Statue von Wladimir Iljitsch Lenin, der mit seinen scharfen Augen auf das Hotel starrte; der Platz ist nach ihm benannt. Die Fassade des Hotels wird von einem Relief beherrscht, das dem Besuch von Juri Gagarin gewidmet ist; das zweite Relief erinnert an die erste örtliche Versammlung der bolschewistischen Räte im Jahr 1919, und das dritte an den 22. März 1920, als Anton Denikin, General der zaristischen Weissgarde, sich von seinen Truppen und Mitarbeitern verabschiedete, bevor er ins Exil ging. Auch das schöne Café im Hotel ist nach Denikin benannt. Ich fragte an der Rezeption, ob es nicht seltsam sei, dass das Hotel auf dem Platz, der den Namen des bolschewistischen Führers trägt, eine Gedenktafel aufstellt, die Denikin gewidmet ist, dem sehr gefährlichen Feind der Bolschewiki. Der Rezeptionist lächelte und sagte: «Sie waren Russen, all das ist unsere Geschichte ...»

Koktebel. Auf dem Gelände des Russischen Literaturfonds
standen damals 28 Häuser, heute ist nur noch dieses eine
Haus übrig

Erinnerung an den sowjetischen Einmarsch in die Tschechoslowakei

Meine Aufregung erreichte ihren Höhepunkt, als wir im nahe gelegenen Koktebel ankamen. Ich habe in einem Kapitel meines Romans «Zone des Jubels» beschrieben, wie der berühmte Schriftsteller Jewgeni Jewtuschenk hier am 21. August 1968 ein Telegramm an Breschnew schrieb, in dem er gegen den sowjetischen Einmarsch in die Tschechoslowakei protestierte. Jewtuschenk befand sich damals in einer Schaffenspause. Auf dem Gelände des Russischen Literaturfonds standen damals achtundzwanzig Häuser, heute ist nur noch ein Haus übrig. Aber das Postamt von Koktebel überraschte mich: Es ist noch dasselbe wie im August 1968, als Jewtuschenk sein Telegramm schickte. Als ich dem Leiter die russische Übersetzung des Romans «Koktebel» und dessen Kapitel «Koktebel 1968» zeigte, quietschte er vor Überraschung und rief den Lokalredakteur an, dem ich ein Interview gab. Die Vorstellung, dass ich an einem Ort war, durch den 1968 die Geschichte der sowjetischen Opposition gegen die Invasion lief, erfüllte mich mit Rührung.

Vom ehemaligen Haus der sowjetischen Schriftsteller ging ich zur Küste, zum Weissen Haus des Dichters Max Woloschin; dort besuchten ihn berühmte Dichter des russischen Silbernen Zeitalters wie Waleri Briusow, Osip Mandelstam, Nikolaj Gumljow, Marina Zwetajewa und viele andere. Auch Alexander Kuprin, Iwan Bunin, Arkadi Avertschenk, Anna Achmatowa, Konstantin Paustowski, Alexander Grin, Vladimir Nabokov, Boris Balter und viele andere haben auf der Krim gearbeitet und gelebt.

Die bisher grösste Attraktion der Krim: Die 19 km lange
Brücke über die Strasse von Kertsch, die die Halbinsel mit
dem russischen Festland verbindet, wurde innerhalb von
3 Jahren gebaut.

Die Brücke über die Strasse von Kertsch

Von Feodosia fuhren wir nach Kertsch zur bisher grössten Attraktion der Krim – der Brücke über die Strasse von Kertsch, die die Halbinsel mit dem russischen Festland verbindet. Die Entscheidung zum Bau der Brücke wurde getroffen, kurz nachdem Kiew die Krim 2015 von der Energie- und später auch von der Wasserversorgung abgekoppelt hatte. Natürlich hat sich die Ukraine mit diesem Akt nicht die Sympathien ihrer ehemaligen Bürger erworben, um die sie sich in der Vergangenheit ohnehin nicht sonderlich gekümmert hat; darin sind sich die Russen, Ukrainer und Tataren der Krim einig. Einig sind sich die Krimbewohner auch darin, 2015 als das härteste Jahr zu bezeichnen. Im April 2015 begannen die Russen mit dem Bau der neunzehn Kilometer langen Brücke mit vier Fahrspuren, genau drei Jahre später wurde sie eröffnet. Die Brücke besteht aus zwei Teilen: einem Teil für den Auto- und Busverkehr und einem Teil für den Bahnverkehr, der noch nicht fertig ist.

Nach Meinung der Einheimischen ist die Krimbrücke eines der am strengsten bewachten zivilen Objekte der Russischen Föderation. Die Anzahl der Militärschiffe an der Südgrenze überzeugte uns von dieser Aussage. Als mich eine hübsche Polizistin am Kontrollpunkt herauswinkte und verlangte, dass ich den Kofferraum meines Autos öffne, zuckte ich mit den Schultern. «Sie wissen nicht, wie man den Kofferraum öffnet?» «Es ist ein Mietauto, wir sind keine Russen.» «Und woher kommt ihr?» «Tschechen und Slowaken.» Mit einem Lächeln winkte sie uns durch, und wir fuhren auf die Brücke. Auf dem Rückweg hat uns niemand kontrolliert. In Feodosia und auch in Kertsch waren die Menschen beim Einkaufen oder sassen auf dem Boulevard, tranken Kaffee, die Kinder sprangen Seil und die Erwachsenen spielten Schach. Diese Menschen unter Besatzung begannen mir auf die Nerven zu gehen. Anstatt ihre tiefe Abneigung gegen die Besatzer zu demonstrieren, sitzen sie auf Bänken und schlecken Eis, das obendrein russisches Eis ist!

Meine letzte Hoffnung war die Hauptstadt Simferopol. Wir fuhren Richtung Westen, kreuz und quer über die gesamte Halbinsel. Die 250 Kilometer lange Schnellstrasse Tavrida soll nächstes Jahr eröffnet werden. Wir fuhren quasi durch eine 250 Kilometer lange Baustelle. Nach der Ankunft ging ich voller Optimismus zu einem der bedeutendsten historischen Denkmäler der Stadt – der Grabstätte des Grossfürsten und Heiligen Alexander Newski, die im 19. Jahrhundert errichtet wurde. 1930 liess Stalin sie zerstören, und ich war fest davon überzeugt, dass die Krimbewohner den Russen das nie verziehen haben. Sehr bald wurde ich jedoch eines Besseren belehrt. Das Grabmal wurde in seiner früheren Pracht wiederhergestellt, und auf einer prominenten Plakatwand in der Nähe las ich: «Der Bau der Grabstätte wurde unter der Schirmherrschaft des Präsidenten der Russischen Föderation Wladimir W. Putin durchgeführt».

Die Schrecken des Krieges sollen sich nie wiederholen

Eine Nation, die einen Krieg auf ihrem eigenen Territorium so brutal erlebt hat, tut alles dafür, dass sich diese Schrecken nie wiederholen. Im Zweiten Weltkrieg töteten die Deutschen einen bedeutenden Teil der russischen Männer im zeugungsfähigen Alter. Es ist verständlich, dass sich die Russen buchstäblich bei jedem Schritt an die Schrecken des Krieges erinnern. Die Russen, die Briten, die Franzosen, die Deutschen, die Chinesen, die Japaner, die Italiener, die Serben, die Polen, die Ungarn, die Tschechen, die Slowaken, die Griechen, die Niederländer, die Belgier, die Rumänen, die Ukrainer, die Weissrussen, die Litauer, die Letten, die Esten und weitere vierzig Nationen der Welt überlebten die Schrecken des Krieges auf ihrem eigenen Territorium.

Die Sowjetunion hatte die meisten Opfer des Zweiten Weltkriegs: 25 Millionen Menschen, das sind 14 % der sowjetischen Bevölkerung. Den grössten Verlust an Menschenleben erlitt Polen mit 5,6 Millionen Toten, also 16 % der Bevölkerung; in dieser Zahl sind 3 Millionen jüdische Opfer des Holocausts enthalten. Die USA hatten 418 500 Gefallene im Zweiten Weltkrieg zu beklagen, was 0,32 % der US-Bevölkerung ausmacht.

Keinerlei Hinweise auf antirussische Aktivitäten

Unsere Reise endete erfolgreich, obwohl ich keinerlei Hinweise auf antirussische Aktivitäten auf der Krim gefunden habe. Dafür möchte ich mich bei den Journalisten der Mainstream-Medien entschuldigen. Trotz allem, was ich auf meiner Reise unternommen habe, und allem, was in den letzten fünf Jahren auf der Krim passiert ist, haben wir nicht einen einzigen Menschen gefunden, der sich besetzt fühlte. Im Gegenteil, die Krimbewohner sind den Russen dankbar, dass sie nicht zugelassen haben, dass sich auf der Halbinsel ein Krieg entwickelt, wie in Lugansk und Donetsk. Während meiner Woche auf der Krim habe ich mit mehr als dreissig Bürgern gesprochen: Russen, Ukrainer, Tataren, Autobahnarbeiter, Kellner, Verkäufer, Touristen, Polizisten, Gymnasiallehrer, Journalisten, Rentner, Fremdenführer, Rettungsschwimmer an den Stränden, Gäste in den Kurorten der Krim, Köche, Soldaten, eine weise alte Dame und schliesslich auch mit einem Alkoholiker, dem einzigen, den ich auf meiner Reise traf. Ich wählte meine Gesprächspartner nicht bewusst aus, sondern sprach mit jedem, den ich zufällig traf. Alle drückten ihre Zufriedenheit, manche sogar ihr Glück darüber aus, dass sie nun zu Russland gehören.

Dank an die USA für die Verhängung der Sanktionen…

Die tatarische Verkäuferin war nicht gegen die Integration in Russland, aber sie war besorgt über die geringere Zahl ausländischer Touristen, die in ihr Café kamen. Ich fragte sie, ob sie glaube, dass dies eine Folge der Integration der Krim in Russland sei oder der Sanktionen und vor allem der völlig negativen und unbegründeten Propaganda ausländischer Medien über die Krim. Sie erklärte sofort, dass die Krimbewohner sich der negativen Propaganda sehr wohl bewusst sind, aber die ausländischen Printmedien sie eigentlich vereinen – nicht nur die Bewohner der Krim, sondern alle Bürger der Russischen Föderation.

Ein russischer Historiker, mit dem ich ein langes Gespräch führte, bedankte sich bei den Amerikanern und ihren Verbündeten für die Verhängung der Sanktionen: «In Russland gibt es viele widerstreitende politische, gesellschaftliche, nationale und andere Strömungen. In der Geschichte jeder Nation gibt es das bewährte Prinzip, dass, wenn man einen starken Feind vor den Toren hat, innenpolitische Differenzen zugunsten der Einheit des Landes ausser Acht gelassen werden und sich das Land um seinen Anführer schart. Davon abgesehen hätten Washington und dessen Satelliten nichts Besseres für Wladimir W. Putin tun können, als Sanktionen auszurufen.»

Die Krim lebt ihr eigenes Leben; es ist ruhig, friedlich und freundlich dort. Ich habe mich immer wieder gefragt, warum in diesen fünf Jahren seit der Eingliederung der Krim in die Russische Föderation nicht einer unserer Journalisten von Fernsehteams, die für die Massenmedien arbeiten, auf die Krim gefahren ist. Vielleicht hatten sie nicht die finanziellen Mittel dazu. Deshalb habe ich den Bericht über meine Reise auf die Krim den vier slowakischen Mainstream-Medien angeboten. Ich warte immer noch auf ihre Antwort.

1 Siehe https//opil.ouplaw.com/view/10.1093/law:epil/9780199231690/law-9780199231690-e1376; aufgerufen 22. August 2019

Quelle: Moradi, Jabbar; Dall'Agnola, Jasmin (Hg.). PC on Earth. The Beginnings of the Totalitarian Mindset. ibidem-Verlag 2020. S. 119–131. Übersetzung aus dem Englischen und Abdruck mit freundlicher Genehmigung.
https://www.ibidem.eu/de/pc-on-earth-the-beginnings-of-the-totalitarian-mindset.html

(Übersetzung «Schweizer Standpunkt»)

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