Der Mythos von Israels «Demokratie»

Israel kann nicht Kolonialmacht und Demokratie sein

Interview von Chris Hedges* mit Ilan Pappé**

(29. Februar 2024) Der israelische Historiker Ilan Pappé stellt die «einzige Demokratie im Nahen Osten» als eine kolonisierende Macht dar, die aufgrund der notwendigen Unterwerfung der Palästinenser von Natur aus undemokratisch ist.

Dass Israel eine echte Demokratie ist, wird oft als eine selbstverständliche Wahrheit angesehen, aber ein kritischer Blick auf die Geschichte und die Realität des Zionismus stellt dies in Frage. Denn wie kann eine Demokratie in einem Land existieren, das verfassungsmässig als Ethnostaat definiert ist, der nur durch die Unterdrückung und allmähliche Eliminierung der anderen existieren kann?

Der israelische Historiker Ilan Pappé diskutiert mit Chris Hedges über Israel als inhärent koloniales und daher antidemokratisches Projekt.

Chris Hedges.(Bild
chrishedges.com)

Einleitung

Chris Hedges: Der Gelehrte Yeshayahu Leibowitz, den Isaiah Berlin als das Gewissen Israels bezeichnete, warnte: «Wenn Israel Kirche und Staat nicht trennt, wird es ein korruptes Rabbinat hervorbringen, das das Judentum in einen faschistischen Kult verwandeln wird. Der religiöse Nationalismus ist für die Religion das, was der Nationalsozialismus für den Sozialismus war», warnte Leibowitz, der 1994 starb. Er erkannte, dass die blinde Verehrung des Militärs, insbesondere nach dem Krieg von 1967, in dem das Westjordanland und Ostjerusalem erobert wurden, gefährlich ist und zur endgültigen Zerstörung der Demokratie führen würde. «Unsere Situation wird sich zu der eines zweiten Vietnam verschlechtern, zu einem Krieg und einer ständigen Eskalation ohne Aussicht auf eine endgültige Lösung», schrieb er.
Jeschajahu Leibowitz, (1903– 1994), israelischer
Mediziner, Religionsphilosoph, Historiker und Humanist,
Professor an der Hebräischen Unversität Jerusalem.
(Bild https://wellcomeimages.org/wikipedia)
Er prophezeite: «Die Araber werden das arbeitende Volk sein und die Juden die Verwalter, Inspektoren, Beamten und die Polizei, vor allem die Geheimpolizei. Ein Staat, der eine feindliche Bevölkerung von 1,5 bis 2 Millionen Ausländern regiert, würde zwangsläufig zu einem geheimen Polizeistaat werden. Mit allen Konsequenzen für die Bildung, die Meinungsfreiheit und die demokratischen Institutionen. Die für jedes Kolonialregime charakteristische Korruption würde auch im Staat Israel vorherrschen. Die Verwaltung müsste einerseits arabische Aufstände unterdrücken und andererseits arabische Verbindungen prüfen. Es ist auch zu befürchten, dass die israelischen Verteidigungskräfte, die bisher eine Volksarmee waren, durch ihre Umwandlung in eine Besatzungsarmee und ihre Kommandeure, die zu Militärgouverneuren geworden sind, ihren Kollegen in anderen Nationen ähneln werden.»
Er warnte davor, dass das Aufkommen eines virulenten Rassismus die israelische Gesellschaft aufzehren würde. Er wusste, dass eine anhaltende Besatzung der Palästinenser Konzentrationslager für die Besetzten hervorbringen würde, und dass, in seinen Worten, «Israel es nicht verdient, zu existieren, und es sich nicht lohnt, es zu erhalten».
Die Entscheidung, den Gazastreifen auszulöschen, ist seit langem der Traum israelischer Fanatiker. Sie sind die Erben der faschistischen Bewegung des Extremisten Meir Kahane, der nicht mehr kandidieren durfte und dessen Kach-Partei 1994 verboten und von Israel und den Vereinigten Staaten zu einer terroristischen Organisation erklärt wurde. Diese jüdischen Extremisten, die heute die Regierungskoalition bilden, sind die Drahtzieher des Völkermords im Gazastreifen, wo täglich Hunderte von Palästinensern getötet oder verwundet werden. Sie setzen sich für die Ikonographie und Sprache ihres eigenen Faschismus ein. Jüdische Identität und jüdischer Nationalismus sind die zionistische Version von Blut und Boden. Die jüdische Vorherrschaft wird von Gott geheiligt, ebenso wie das Abschlachten der Palästinenser, die mit den biblischen Amalekitern verglichen werden, die von den Israeliten massakriert wurden. Feinde, in der Regel Muslime, die ausgelöscht werden sollen, sind Untermenschen, die das Böse verkörpern. Gewalt und die Androhung von Gewalt sind die einzigen Formen der Kommunikation, die diejenigen ausserhalb des magischen Kreises des jüdischen Nationalismus verstehen. Millionen von Muslimen und Christen, einschliesslich derer mit israelischer Staatsbürgerschaft, sollen ausgerottet werden.
Ilan Pappé. (Bild
shark1989z/wikipedia)
Ilan Pappé, Geschichtsprofessor an der Universität Exeter in Grossbritannien, wird mit mir darüber sprechen, wie sich die Besetzung Palästinas auf die israelische Gesellschaft ausgewirkt hat und was die Ergebnisse der derzeitigen mörderischen Kampagne im Gazastreifen und im Westjordanland für die Zukunft Israels bedeuten. Er hat das, was Israel den Palästinensern antut, als schrittweisen Völkermord [incremental genocide] bezeichnet.
Er hat zahlreiche Bücher geschrieben, darunter «The Biggest Prison on Earth: A History of the Occupied Territories» und «The Ethnic Cleansing of Palestine», dass sein französischer Verleger trotz steigender Verkaufszahlen seit den Anschlägen vom 7. Oktober nicht mehr veröffentlicht, was Teil der konzertierten Kampagne der Zionisten und ihrer Unterstützer ist, israelkritische Darstellungen zu diskreditieren und zu zensieren.
Ich möchte mit einem Blick auf das Post-Israel beginnen, auf das zionistische Projekt, das in den 1920er Jahren beginnt, und herausfinden, ob das Projekt selbst, noch vor der Gründung des Staates Israel, den Keim seiner eigenen Zerstörung in sich trug.

*  Chris Hedges, geboren 1956, ist ein US-amerikanischer Journalist und Autor. Er studierte an der Colgate University und der Harvard Divinity School. Hedges verbrachte fast zwei Jahrzehnte als Auslandskorrespondent in Mittelamerika, im Nahen Osten, in Afrika und auf dem Balkan. Er war ein früher und unverblümter Kritiker des US-Plans, in den Irak einzumarschieren und ihn zu besetzen, und bezeichnete die damalige Presseberichterstattung als «beschämendes Jubelgeschrei». Im Jahr 2002 gehörte er zu einem Team von Reportern der New York Times, die den Pulitzer-Preis für die Berichterstattung über den weltweiten Terrorismus erhielten. Er ist Autor mehrere Bücher unter anderem «America: The Farewell Tour» (2018) und «The Greatest Evil is War» (2022).

**  Ilan Pappé wurde 1954 in Haifa geboren. Im Jahr 1978 schloss er sein Studium an der Hebräischen Universität Jerusalem ab, promovierte 1984 an der Universität Oxford und widmete sich insbesondere den Beziehungen zwischen dem Vereinigten Königreich und der Entstehung Israels, ein Thema, das ihn sein ganzes Leben lang begleiten sollte. Von 1984 bis 2006 war er Dozent am Institut für Geschichte des Nahen Ostens und am Institut für Politikwissenschaft der Universität Haifa. Heute ist Professor am College of Social Sciences and International Studies der Universität Exeter in Grossbritannien, wo er das Europäische Zentrum für Palästinastudien leitet sowie das Exeter Centre for Ethno-Political Studies mitleitet. Er ist Autor mehrerer Bücher, darunter «The biggest Prison on Earth: A History of The Occupied Territories» (2019) und «The Ethnic Cleansing of Palestine» («Die ethnische Säuberung Palästinas», dt. Neuauflage Januar 2024)

Seit den 1920er – Land ohne Menschen oder Menschen ohne Recht

Ilan Pappé: Ja, ich glaube schon. Und Sie haben Recht, wenn Sie auf die 1920er Jahre verweisen, denn natürlich gab es die zionistische Bewegung schon vorher, aber ich denke, dass sie Mitte der 1920er Jahre begann, Land zu kaufen und die Menschen, die auf diesem Land lebten, zu vertreiben. Und das geschah um 1926. Es wurde zu einem Siedlerkolonialprojekt und nicht nur zu einem Projekt zur Rettung der Juden vor dem Antisemitismus oder zu einer nationalen kulturellen Neudefinition des Judentums als Nationalismus statt als Religion.

In dem Moment, in dem dies geschah, war klar, dass es sich einer einheimischen Bevölkerung mit Gewalt aufdrängen würde. Es handelte sich dabei nicht nur um das klassische koloniale Eindringen von Siedlern aus dem Ausland, die sich einer einheimischen Bevölkerung aufzwingen. Es handelte sich vielmehr auch um die Vorstellung, dass sie einen europäischen Staat inmitten der arabischen Welt schaffen oder errichten können, ähnlich wie die weissen Suprematisten in Südafrika. Es gibt zwei Tatsachen: Man versucht, ein Projekt der Verdrängung und des Ersetzens einer einheimischen Bevölkerung umzusetzen und man versucht, ein kulturelles politisches Gebilde zu schaffen, das das Gebiet, zu dem es gehört, entfremdet. Das Gebiet, das man entfremdete, wurde verkauft, ich glaube in den 1920er Jahren. Zweifellos können wir die Auswirkungen davon bis heute sehen.

Chris Hedges: Und doch gab es immer eine Spannung innerhalb des zionistischen Projekts. Ich kannte Abba Eban, Teddy Kollek. Sie haben sie vielleicht auch gekannt. Als ich in Israel war, wurde die Kach-Partei von Meir Kahane verboten. Dieser sehr rechtsgerichtete Rabbiner wurde [1990] ermordet. Die Leute, die Netanjahu jetzt umgeben, sind natürlich die Erben der Kach-Partei. Und ich möchte, dass Sie über diese Spannungen sprechen, denn es gab sie. Ich meine, Teddy Kollek, als er Bürgermeister von Jerusalem war, als ich dort war, baute er Abwassersysteme für Jerusalem. Das war eine andere Herangehensweise an die Kolonisierung, oder habe ich das vielleicht falsch verstanden?

Ilan Pappé: Es war ein anderer Ansatz, aber es blieb eine Kolonisierung. Wenn ich es etwas schroff ausdrücke, würde ich sagen, dass es innerhalb des Zionismus definitiv eine ideologische Strömung gab, die glaubte, dass man ein fortschrittlicher Kolonisator oder ein aufgeklärter Kolonisator sein könnte. Doch aus der Sicht der kolonisierten Menschen war die Kolonisierung immer noch da, selbst wenn sie in wirtschaftlicher Hinsicht und in Bezug auf die Infrastruktur einige Vorteile bot. Die Kolonisierung drückte sich nicht nur darin aus, ob man Jerusalem mit einer Kanalisation versorgte oder nicht, sondern auch darin, dass Teddy Kollek als Bürgermeister von Jerusalem die ethnische Säuberung einer grossen Anzahl von Palästinensern in Ostjerusalem überwachte, um Platz für den Bau neuer jüdischer Viertel zu schaffen, die zu Recht als jüdische Kolonien oder Siedlungen bezeichnet werden sollten.

Letzten Endes bedeutete die zionistische Vision, selbst in ihrer liberalsten Version, dass die Palästinenser bestenfalls als Individuen in begrenzten Gebieten innerhalb Palästinas toleriert werden konnten. Das würden die israelischen Vorstellungen von nationaler Sicherheit bestimmen. Im schlimmsten Fall sind sie ein Hindernis, das beseitigt werden muss. Im Laufe der Zeit sagten sich die meisten israelischen Juden: «Warum sollte man sich damit begnügen, ihre Anwesenheit zu begrenzen? Warum sollte man sie nicht ganz loswerden?»

Spaltung zwischen dem Staat Israel und dem Staat Judäa

Chris Hedges: Und doch vertraten diese Figuren eine säkulare Strömung des Zionismus. Ich möchte, dass Sie ein wenig über Yeshayahu Leibowitz sprechen, den Sie kannten und den ich in der Einleitung zitiert habe. Er spricht über diese religiöse Strömung innerhalb des Zionismus, bei der das Land selbst heilig wird, als besonders gefährlich. Ich glaube, er benutzt sogar das Wort faschistisch. Es gibt diese Spaltung. Da war zum Beispiel Abba Eban [1. Ständiger Vertreter Israels bei der UNO] der das bessere Englisch sprach als ich. Er war in Oxford ausgebildet, er war kultiviert. Sagen Sie uns doch etwas über diese Spannung zwischen säkularem und religiösem Zionismus. Natürlich hat sich der ultraorthodoxe religiöse Zionismus im Wesentlichen durchgesetzt.

Ilan Pappé: Ja, ich nenne diese Spannung, auf die Sie zu Recht hinweisen, den Kampf zwischen dem Staat Israel und dem Staat Judäa. Der Staat Judäa wächst unter den nationalreligiösen Gruppen heran und wird nach 1967 besonders stark. Die Siedlungen im Westjordanland, und davor sogar im Gazastreifen sind eine Art Hauptquartier oder Standort, wenn Sie so wollen. Sie werden zu einer Kraft, mit der man rechnen muss, und sie vereinen genau das, wovon Leibowitz sprach, und im Entstehen sah. Im Nachhinein muss man ihm zugutehalten, dass er es gesehen und gewissermassen vorausgesagt hat. Aber jetzt haben wir den Vorteil der Zeit, um zu sehen, dass er absolut Recht hatte.

Der Staat Judäa, den man als Siedlerstaat bezeichnen kann, ist eine Kombination aus messianischem Zionismus und fundamentalistischer Auslegung des Judentums. Es ist der Wunsch, eine Theokratie zu schaffen, in der auch säkulare Juden der Feind sind, nicht nur die Palästinenser. Und sie werden stärker. Früher standen sie am Rande der Gesellschaft und wir dachten, dass sie nicht wirklich relevant sind. Aber jetzt sind sie eine zentrale Macht in Israel und der Staat Israel stellt sich gegen sie. Das ist das Israel von vor 1967, das eine liberale Demokratie sein wollte, ein pluralistisches, säkulares Land, das aber im Kampf gegen den Staat Judäa untergeht.

Aber das Interessante und Frustrierende an diesem Kampf ist, dass er die Palästinenser überhaupt nicht betrifft. Wie Sie wahrscheinlich wissen – und wir haben es aufgrund der dramatischen Ereignisse nach dem 7. Oktober vergessen – aber bis zum 7. Oktober erlebten wir in Israel eine Art Mini-Bürgerkrieg zwischen den beiden Staaten, von denen ich spreche, dem Staat Israel und dem Staat Judäa. Hunderttausende von säkularen Israelis demonstrierten täglich, um das Israel zu verteidigen, das sie wollen.

Aber wenn palästinensische Bürger Israels sie fragen: «Können wir uns euch anschliessen? Können wir auch die Ablehnung der Besatzung als Teil unseres Kampfes für ein besseres Israel einbeziehen?» Da wurden sie aus dieser Protestbewegung rausgeworfen, denn sie ist nicht gegen die Besatzung und nicht gegen die Halb- oder Voll-Apartheid Israels. Es geht darum, was für ein Apartheid-Israel wir haben sollten. Ein liberales, demokratisches für die Juden oder ein theokratisches für die Juden?

Aber leider geht es nicht um die Hauptfrage, um die wichtigste Frage, mit der wir unser Gespräch begonnen haben: Kann man Millionen von Menschen gegen ihren Willen militärisch und gewaltsam unterdrücken?

Während der «Nakba», 1948, wurden Tausende palästinesische Familien
von militanten israelischen Organisationen, wie hier der Haganah, von
ihrem Land vertrieben. (Bild Keystone/EPA Photo/STR)

1948 – «Eine massive ethnische Säuberung»

Chris Hedges: Ich möchte über das Jahr 1948 sprechen, das ist der Unabhängigkeitskrieg. Alle kolonialen Projekte der Siedler werden mit Gewalt durchgesetzt, so auch damals in den Vereinigten Staaten. Der Unterschied besteht darin, dass in Nord-, Mittel- und Südamerika bis 1600 in einem Zeitraum von 100 Jahren 56 Millionen Ureinwohner entweder durch Krankheiten oder durch Gewalt ausgerottet wurden, so dass um 1600 nur noch etwa 10% der ursprünglichen Ureinwohner dort lebten. Diese gross angelegte Ausrottung ermöglicht es einem kolonialen Siedlerprojekt zu überleben, weil es physisch keinen Widerstand gibt. Das ist in Israel nicht der Fall.
Etwa 5,5 Millionen Palästinenser leben unter Besatzung, 9 Millionen leben in der Diaspora. Dies ist seit der Gründung des Staates Israel ein grosses Problem für die israelische Führung. Wie werden sie damit fertig? Die demografische Zeitbombe ist real, da die Araber immer grössere Familien gründen. Es gibt eine enorme Abwanderung, eine Art Braindrain aus Israel. Ich glaube, es gibt eine Million Israelis, die in den Vereinigten Staaten leben. Aber schauen wir uns 1948 an, wie mit dem Problem umgegangen wurde. Und dann gehen wir ins Jahr 1967, als Israel den verbleibenden Teil Palästinas, das Westjordanland und den Gazastreifen, besetzte.

Ilan Pappe: Ja, wie Sie richtig sagen, haben die kolonialen Projekte der Siedler immer diese zwei Dimensionen, Geografie und Demographie, oder wenn Sie bevölkerte Gebiet beanspruchen, dann wollen Sie das Gebiet ohne die Bevölkerung. Und je mehr Land man sich nimmt, desto mehr unerwünschte Bevölkerung hat man. So nutzte die zionistische Führung 1948 das Ende des Mandats und die Umstände, die sich drei Jahre nach dem Holocaust in der Region und in der Welt entwickelten, um eine massive ethnische Säuberung durchzuführen. Da blieb noch die Hälfte der palästinensischen Flüchtlinge und die andere Hälfte der palästinensischen Bevölkerung wurde vertrieben. Die Hälfte der palästinensischen Dörfer, mehr als 500, wurden zerstört und die meisten der palästinensischen Städte demoliert.

Innerhalb der Grenzen, die nach 1948 einfach festgelegt wurden, das heisst im heutigen Israel ohne das Westjordanland und den Gazastreifen, war Israel nicht in der Lage, die ethnische Säuberung vollständig durchzuführen. Aber da war eine relativ kleine palästinensische Minderheit, die die demografische Mehrheit der Juden nicht gefährdete. So konnte man sogar einen demografischen Staat haben, weil man immer wusste, dass Demokratie und Demografie Hand in Hand gehen würden. Obwohl die Palästinenser in Israel aufgrund der Paranoia David Ben-Gurions bis 1966 das Recht hatten, zu wählen und gewählt zu werden, standen sie ohnehin unter einer sehr strengen Militärherrschaft.

Nun ist es nicht verwunderlich, dass Ben-Gurion, der grosse Architekt der ethnischen Säuberung von 1948, versuchte, die israelische Regierung unter Druck zu setzen. Er war bereits 1963 aus der Politik ausgeschieden, aber nach Juni 1967 versuchte er, die israelische Regierung davon zu überzeugen, sich aus dem Westjordanland zurückzuziehen, indem er ihr ungefähr sagte: «Ich habe es geschafft, etwa 1 Million Palästinenser loszuwerden, und jetzt nehmt ihr eine noch grössere Anzahl von Palästinensern unter eure Herrschaft.» Die Art von Führung, die ihm nachfolgte – einige von ihnen waren junge Generäle während des 1948er Krieges und einige andere Politiker wie Levy Eshkol und die von Ihnen erwähnten Abba Eban und Teddy Kollek – entschied, dass es keine Notwendigkeit für massive ethnische Säuberungen gibt, um die Demographie so zu halten, dass sie die jüdische Demokratie nicht gefährdet.

Was taten sie also? Sie beschlossen, Millionen von Menschen im Westjordanland und im Gazastreifen ohne das Recht auf Teilhabe am politischen System Israels zu belassen. Als einige Leute zu ihnen sagten: «Okay, das ist in Ordnung, aber könnt ihr im Gegenzug den Palästinensern das Recht geben, ihre Zukunft in einem palästinensischen Staat im Westjordanland und im Gazastreifen selbst zu bestimmen?» Das wollten sie auch nicht akzeptieren. Sie glaubten also wirklich, dass sie den nationalen Ehrgeiz und den Widerstand der Palästinenser irgendwie eindämmen könnten. Sie hatten die Idee, dass das Westjordanland und der Gazastreifen unsere von Israel kontrollierten Enklaven sind. Sie glaubten wirklich, dass sie mit einer gewissen Autonomie für die Palästinenser im Inneren, die nationalen Ambitionen und den Widerstand der Palästinenser irgendwie eindämmen könnten und die Welt davon zu überzeugen, dass dies die beste Lösung sei. Sie nannten es sogar eine Art Zweistaatenlösung. Mit einer Zweistaatenlösung hatte das natürlich nichts zu tun.

Historisch gesehen handelt es sich also immer um dasselbe Problem, wie Sie richtig sagen, es geht darum, ein Territorium, ohne die Bevölkerung zu haben. Aber aufgrund der Umstände und Dinge, die sich geändert haben, ist 1948 nicht 1967 und 1967 ist nicht 2023, und deshalb ändern sich die Methoden zur Aufrechterhaltung dieses Gleichgewichts zwischen Territorium und Bevölkerung. Aber die Vision ist dieselbe, und das Ziel ist dasselbe, und die Misserfolge sind dieselben.

Die massive Vertreibung hat nicht funktioniert. Die Idee, Menschen ohne Staatsbürgerschaftsrechte zu halten, funktioniert nicht, und auch die Belagerung des Gaza-Streifens, wie wir sie vor dem 7. Oktober erlebt haben, lässt sich nicht auf Dauer durchsetzen. Was auch immer die Israelis mit dem Gazastreifen vorhaben, ich kann Ihnen versichern, dass es, ohne zu wissen, wie es ablaufen wird, ein riesiger Misserfolg sein wird, der leider einen unglaublichen menschlichen Preis haben wird, hauptsächlich für die Palästinenser.

1967 – Der Beginn eines Apartheidsystems

Chris Hedges: Leibowitz, Kritiker des radikalen Zionismus, nimmt den Krieg von 1967, in dem Israel den Palästinensern das verbliebene Land weggenommen hat, als den entscheidenden Punkt. Er bezeichnet sich selbst als Zionist. Er scheint zu argumentieren, dass die als Grüne Linie bekannten Grenzen von vor 1967 funktionieren könnten. Aber 1967 und die Weigerung der israelischen Führung, die Besatzung aufzugeben oder nach 1967 zu den Grenzen von vor 1967 zurückzukehren, ist für ihn in vielerlei Hinsicht der Tod der israelischen Demokratie und der Zivilgesellschaft, so argumentiert er leidenschaftlich. Können Sie das erklären?

Ilan Pappé: Das stimmt. Nun, zunächst einmal würde ich sagen, dass die Saat für dieses Ende oder die Implosion von Innen schon viel früher in den 1920er Jahren gelegt wurde. Aber halten wir uns an diese These, obwohl ich glaube, dass sie von Anfang an zum Scheitern verurteilt war. Aber es besteht kein Zweifel daran, dass die Besatzung von 1967 diese Prozesse beschleunigt hat. Entstanden sind dadurch ein Rechtssystem, ein politisches System und ein kulturelles System, die eine tägliche Verletzung der Menschenrechte und der Bürgerrechte der Palästinenser rechtfertigen, zumindest innerhalb Israels. Im Israel der Zeit vor 1967 gab es ständig Versuche, die Situation der palästinensischen Bürger in Israel zu verbessern. Sie hatten das Recht zu wählen, sie hatten das Recht, gewählt zu werden, und schliesslich durften sie sogar ihre eigenen nationalen Parteien gründen und so weiter.

Aber gleichzeitig ging es im Westjordanland und im Gazastreifen in eine andere Richtung, in eine andere Art von Zukunft. Ein langer und nicht enden wollender Bau von zwei Mega-Freiluftgefängnissen, eines im Westjordanland und eines im Gazastreifen. Sie mussten von Hunderttausenden von Israelis unterhalten werden, die täglich an der Aufrechterhaltung dieser Mega-Gefängnisse zur Überwachung von Millionen von Menschen beteiligt waren. Ich denke, das ist der Punkt, an dem Leibowitz, der sich von Kollek und Abba unterschied, sie warnte. Nämlich vor der Annahme, dass man das trennen könnte. Dass es dieses demokratische, liberale, pluralistische Israel innerhalb der Grenzen von vor 1967 geben wird, und dass es etwas weniger Bewundernswertes, weniger Glückliches, aber hoffentlich Handhabbares jenseits der Grünen Linie, jenseits der Grenzen Israels geben wird.

Und er hat zu Recht davor gewarnt, dass man es nicht eindämmen kann, dass es nach Israel überschwappen wird, und dass man am Ende des Tages nicht zwei Entitäten haben wird, nämlich ein liberales demokratisches Israel neben einem besetzten Palästina.

Nein, am Ende des Tages wird man ein Apartheidsystem haben, das vielleicht Unterschiede in der Art und Weise aufweist, wie es das Leben der Palästinenser kontrolliert. Im Wesentlichen jedoch, wie Human Rights Watch und Amnesty International schliesslich vor kurzem verstanden haben, muss mittels Segregation, Diskriminierung und Unterdrückung regiert werden. Dabei spielt es keine Rolle, ob wir über Tel Aviv und Haifa oder über Nablus und Gaza sprechen. Es ist ein einziges organisches Land geworden, in dem die Menschen, die Palästinenser, einer Vielzahl von rechtlichen und militärischen Regimen unterworfen sind, die die grundlegenden Bürger- und Menschenrechte verletzen.

Chris Hedges: Und ich möchte nur sagen, dass israelische Araber, auch wenn es vor 1967 Bestrebungen gab, sie einzugliedern, trotzdem nicht in der Armee oder den Geheimdiensteinheiten dienten. Das ist doch richtig, oder?

Ilan Pappé: Ja. Ja.

Quadratur des Kreises – Universelle Werte und Unterdrückung

Chris Hedges: Ja, das stimmt. Leibowitz geht es also nicht nur darum, dass die Besatzung für ihn nicht haltbar ist, sondern darum, was sie bewirkt, wie sie die israelische Gesellschaft deformiert. Können Sie etwas dazu sagen? Was ist passiert? Mich interessiert vor allem, zu erfahren, wie Sie erklären, weshalb diese zionistischen Fanatiker und Bigotten und Kryptofaschisten, diese Leute um Netanjahu herum, sich durchgesetzt haben?

Ilan Pappé: Nun, ich denke, dass hier zwei Krisen am Werk sind. Die eine Krise ist das, was man als zionistische Linke bezeichnen kann, dieser Versuch, die Quadratur des Kreises zu schaffen und sich zu sagen: Ich kann sowohl ein Besatzer als auch ein Sozialist oder ein Liberaler sein. Das hat in vielerlei Hinsicht nicht funktioniert. Zunächst einmal waren die Palästinenser davon nicht beeindruckt. Sie haben verstanden, wie ich es einmal ausgedrückt habe, dass, wenn du den Stiefel eines Zionisten im Gesicht hast, spielt es keine Rolle, ob er das Buch von Marx oder die Bibel in der Hand hält, was zählt, ist der Stiefel. Ich denke, das ist ein Grund, warum die zionistische Linke nicht funktioniert hat.

Zweitens hatten die israelisch-jüdischen Wähler das Gefühl, dass dies eine Täuschung ist. Sie sagten: «Ihr denkt wie wir, aber ihr hättet es gerne netter gehabt. Ihr hättet es gerne gesehen, wenn die Welt es nicht in vollem Umfang mitbekommen hätte. Ihr wollt die internationale Legitimität nicht verlieren. Nicht weil Sie einen anderen moralischen Ansatz haben, sondern weil Sie einen funktionelleren Ansatz haben.» Und das hat die jüdische Wählerschaft nicht überzeugt.

Die eine Krise war also das, was ich das Versagen nenne, die Quadratur des Kreises zu schaffen und die universellen Werte mit den Werten des Kolonialismus und der Unterdrückung zu vereinbaren.

Die zweite und nicht weniger wichtige Krise ist das Scheitern oder der Zusammenbruch der Idee, dass man das Judentum als Nationalismus neu definieren kann. Es gab den Versuch, eine jüdische Kultur, eine jüdische Identität zu schaffen, die säkular ist, und es hat nicht funktioniert. Es gibt einige Erfolge. Es gibt eine hebräische Kultur, kein Zweifel. Ich selbst träume auf Hebräisch. Hebräisch ist meine Muttersprache, also bin ich mir des Erfolgs des Zionismus bei der Schaffung einer hebräischen Kultur durchaus bewusst. Aber die hebräische Kultur ist kein Ersatz für das Judentum. Sie schafft eine Kultur rund um die Sprache, aber sie hat nicht die Macht, die eine religiöse Zugehörigkeit hat.

Während die religiösen Juden eine klare Vorstellung davon hatten, was das Judentum ist, wussten die israelischen Juden nie, was es bedeutet, ein israelischer Jude zu sein. Wie Sie wahrscheinlich wissen, in unseren Identitätskarten, in unseren Personalausweisen steht bei Nationalität nicht Israeli. Kein Israeli hat als nationale Identität israelisch.

In meiner Identitätskarte (ID) steht als Nationalität jüdisch. In der ID meines Nachbarn, der ein palästinensischer Israeli ist, steht, dass seine Nationalität muslimisch ist, nicht palästinensisch oder christlich. Das heisst sie versuchen, diese Vorstellung durchzusetzen, dass sie mit religiösen Identitäten spielen und sie sogar Christen und Muslimen aufzwingen können. Das funktioniert jedoch nicht. Ich denke, dass überall auf der Welt der Versuch nicht funktioniert, eine staatliche Identität zu schaffen, die einer religiösen Identität in der modernen Welt gleichkommt. Es funktioniert nicht.1

Diese Krise hat dazu geführt, dass viele israelische Juden zum Judentum als Religion zurückgekehrt sind, auch die arabischen Juden, die ohnehin eher traditionell waren. Und dann haben sie sich ähnliche Fragen gestellt, wie sie sich im politischen Islam stellen. Können wir die jüdischen Texte in politische Dokumente unserer Zeit übertragen? Können wir die Imperative der Religion in den öffentlichen Bereich, in die staatliche Politik, sowohl in der Innen- als auch in der Aussenpolitik, einbringen? Für säkulare Israelis ist das etwas, womit sie nicht koexistieren können. Aber sie haben keine wirklich gute Antwort darauf. Was bedeutet es also, ein Jude zu sein, wenn es kein religiöser Jude ist? Was ist ein säkularer Jude? Was ist eigentlich ein säkularer Muslim, oder ein säkularer Christ? Das ist eine Krise, die es vielleicht auch an anderen Orten gibt, aber nicht im gleichen Ausmass wie in diesem Druckkessel in Israel, in dem diese Fragen lebenswichtig und existenziell werden.

Chris Hedges: Als Thukydides über die Ausdehnung des athenischen Reiches sprach, schrieb er: «Die Tyrannei, die Athen anderen auferlegt hat, hat es schliesslich sich selbst auferlegt». Inwieweit wird die Tyrannei, die Israel den besetzten Palästinensern auferlegt hat, nun auch ihnen selbst auferlegt?

Ilan Pappé: Nun, es gab klare Anzeichen. Ich meine, es gab sie schon vorher, aber ich denke, der 7. Oktober war ein Vorwand für diese Tyrannei, die sich gegen freidenkende israelische Bürger richtet, die per Definition auch Juden sind. Mit dem Geschichtslehrer Petah Tikva haben wir einen eindeutigen Fall.

Er setzte sich dafür ein, seinen Schülern einige alternative Ansichten zu vermitteln, die sie in den israelischen Medien nicht hören. Er wurde für einige Tage inhaftiert, bevor er wieder freigelassen wurde. Jeder Versuch von palästinensischen Bürgern Israels oder antizionistischen israelischen Bürgern, Zweifel zu äussern oder auch nur zu sagen, dass man den Kontext des 7. Oktobers verstehen muss, wird von der Polizei als Aufwiegelung zum Terrorismus betrachtet. Wie jeder Historiker weiss, ist es unvermeidlich, dass sich dies niemals auf eine bestimmte Gruppe von Menschen beschränken lässt. So wendet man schliesslich diese Macht gegen das eigene Volk an. Dabei kommt es auf denjenigen an, der die Macht einsetzt.

Es gibt einige sehr wichtige kritische Soziologen in Israel, zu denen ich nicht gehöre. Sie haben verfolgt, wie die oberen Etagen des israelischen Sicherheitsdienstes und der Armee, jetzt besetzt werden von denen die den Staat Judäa verkörpern, nämlich von Siedlern, von nationalreligiösen Siedlern. Sie nehmen inzwischen eine sehr wichtige Position ein. Das beste Beispiel dafür ist der Terrorist aus dem Staat Judäa, Ben-Gvir, der Minister für innere Sicherheit ist.

Es gibt also auch an der Spitze jemanden, der nicht zögert, gegen frei denkende Israelis, egal ob Juden oder Araber, die gleichen Mittel einzusetzen, die er auch gegen die Palästinenser einsetzen will. Auch wenn er in den Augen seiner eigenen Untergebenen etwas eine Witzfigur ist, gibt es unter ihm wichtige Leute, die eigentlich zum öffentlichen Dienst gehören und nicht politisch gewählt sind. Sie kommen jedoch aus dieser ideologischen Brutstätte, die Leute wie mich, als genauso gefährlich einstufen wie jeden Palästinenser, und das ist etwas, das sich jetzt in Israel ausbreitet.

7. Oktober – direkte Folgen

Chris Hedges: Lassen Sie uns über den 7. Oktober sprechen, sowohl über die Auswirkungen auf der Mikroebene als auch, als Historiker, auf der Makroebene.

Ilan Pappé: Nun, die Auswirkungen auf Mikroebene sind wirklich bizarr. Ich versuche, sie zu verstehen, auch wenn ich sie ansatzweise allmählich nachvollziehen kann. Beginnen wir mit der israelischen jüdischen Gesellschaft. Es gibt diese fast unmögliche Mischung aus totalem Unglauben an die Fähigkeit des jüdischen Staates, ihre Bürger zu verteidigen oder ihnen auch nur die grundlegendsten Dienstleistungen zu bieten. Es ist also ein totaler Zusammenbruch des Vertrauens in den Staat, für Sie zu sorgen. Nicht nur zu ihrer Verteidigung, weil das Militär versagt hat, sondern auch, weil der Staat nach dem 7. Oktober nicht mehr da war. Ich weiss nicht, inwieweit sich die Leute dessen bewusst sind, aber der Staat funktionierte etwa zwei Monate lang nicht, weder die soziale und noch die wirtschaftliche Versorgung. Das wurde alles von der Zivilgesellschaft übernommen. Die Regierung hat den Menschen, die aus dem Norden oder dem Süden vertrieben wurden, überhaupt nicht geholfen.

Auf der einen Seite ist also das Vertrauen in den Staat zusammengebrochen. Auf der anderen Seite wird die völkermörderische Politik in Gaza uneingeschränkt unterstützt. Das ist ein Widerspruch, aber man kann verstehen, woher er kommt. Das ist eine der Mikro Auswirkungen, die es gibt: die israelisch-jüdische Gesellschaft im Israel nach dem 7. Oktober ist noch unnachgiebiger, unflexibler, theokratischer und fanatischer.

Was die Palästinenser betrifft, so denke ich, dass sich auch die palästinensische Nationalbewegung einige grosse Fragen stellen wird, denn es ist eine grosse Verantwortung, eine Operation durchzuführen, wenn man wahrscheinlich schon vorher weiss, wie die israelische Reaktion ausfallen würde.

Ich hatte ein Webinar mit einigen Leuten aus dem Libanon und wir sprachen darüber. Ich denke, dass es Ähnlichkeiten gibt. Die Leute sagten zu mir: «Aber die Hamas hat sozusagen auf dem Erbe des Jahres 2000 aufgebaut, als es der Hisbollah mutig gelang, die israelische Armee aus dem Libanon zu vertreiben». Es gibt also ein Beispiel für eine arabische paramilitärische Gruppe, die es mit der Macht der israelischen Armee aufnehmen kann. Aber ich sagte: «Ja, aber es gibt noch ein anderes Vermächtnis, nämlich das von 2006, als Hasan Nasrallah, der Führer der Hisbollah, sagte: ‹Hätte ich gewusst, dass die israelische Reaktion auf die Entführung von drei Soldaten die Zerstörung von Beirut sein würde, hätte ich diese Operation nicht angeordnet.›»

Er sprach also von Verantwortung: Wenn man eine Strategie verfolgt, trägt man auch Verantwortung für seine eigenen Leute. Es wäre interessant zu sehen, wie die Palästinenser auf den israelischen Vergeltungsschlag reagieren, was natürlich ihre Möglichkeiten übersteigt. Ich denke, sie waren in der Lage, die öffentliche Meinung zu mobilisieren, um zu zeigen, dass die wachsende Solidarität mit den Palästinensern nicht geschwächt wird, unabhängig davon, ob man den Oktober-Einsatz verurteilt oder nicht.

Lassen Sie uns nun über die Makroebene sprechen. Die Makroebene ist, dass Israel die Hamas nicht so einfach besiegen kann und dort festsitzen wird. Um auch nur annähernd einen Erfolg, einen Sieg, verbuchen zu können, müssten sie über Jahre hinweg eine direkte Besatzung aufrechterhalten. Das wiederum könnte leicht zu einem Aufstand im Westjordanland und einem Angriff der Hisbollah aus dem Norden eskalieren, und wer weiss, vielleicht sogar zu Unterströmungen in der arabischen Welt, die die bisherige arabische Toleranz gegenüber Israel verändern würden. Dies kann in einen regionalen Krieg eskalieren. Das ist das düstere Szenario.

Das positivere Szenario auf der Makroebene ist, dass es der sehr pro-palästinensischen Zivilgesellschaft gelingen könnte, sogar Boykotts und Kapitalabzug von Israel zu unterstützen. Es könnte ihnen gelingen einige Regierungen im Globalen Norden und definitiv im Globalen Süden davon zu überzeugen, über die Aktionen der Zivilgesellschaft hinaus zu Sanktionen und Druck auf Israel überzugehen. Es könnte dazu führen, dass sie vielleicht eine völlig neue Wahrnehmung von der Notwendigkeit haben, Druck auf Israel auszuüben, damit es seine suprematistische Politik, seine Unterdrückung und so weiter aufgibt.

Es ist noch zu früh, zu beurteilen, welcher der beiden Prozesse sich entfalten wird. Sie könnten sich sogar gemeinsam entfalten, d.h. je gewalttätiger die Region wird, desto eher ist die internationale Gemeinschaft vielleicht bereit, ihre grundlegenden Ansichten über das Wesen des Problems und den Ausweg daraus zu ändern.

26. Oktober 2023: Juden in den USA demonstrieren gegen die aktuelle
Politik der israelischen Regierung. (Bild Keystone/EPS/ Sarah Yenesel)

Die Rolle Washingtons

Chris Hedges: Aber liegt der Schlüssel nicht in Washington? Ich meine, Israel ist mit den USA bereits an dieser Frage dran. Sie sind die Pariastaaten, wie wir bei der Abstimmung in der UNO gesehen haben. Solange es bedingungslose Unterstützung aus Washington gibt, kann Israel jedem Druck widerstehen, oder etwa nicht?

Ilan Pappé: Nun, das ist eine sehr wichtige Frage, denn ich denke, dass der globale Süden auch Macht hat. Ich habe im September an einer chinesischen Universität gelehrt, und es wurde sehr deutlich, dass China zum Beispiel immer noch zögert, sich in der Palästina-Frage zu engagieren. Wie Sie wissen, ist die chinesische Aussenpolitik – im Gegensatz zu dem, wie sie in Amerika dargestellt wird – mehr an wirtschaftlichen Gewinnen interessiert als an allem anderen. Und das zurecht, denn Palästina ist derzeit wahrlich keine wirtschaftliche Goldgrube. Ich glaube also nicht, dass sie sich dort allzu sehr engagieren werden.

Aber ich denke, dass es andere Mächte auf dem internationalen Globus gibt, die die amerikanische Hegemonie in der Palästina-Frage in Frage stellen könnten. Das ist der eine Punkt. Und zweitens, ja, Amerika ist immer noch ein Schlüssel. Aber in der amerikanischen Zivilgesellschaft tut sich etwas.

Israelis und Pro-Israelis in Amerika bezeichnen dies gerne als das Aufkommen eines neuen Antisemitismus. Das ist eine sehr oberflächliche Analyse der Tatsache, dass die jüngere Generation von Amerikanern, einerseits viel besser über die Vorgänge in Palästina Bescheid weiss als die vorherige Generation und anderseits weitaus engagierter ist. Manche würden sagen naiv, aber sie ist stärker der moralischen Dimension der Aussen- und Sicherheitspolitik verpflichtet. Und das schliesst grosse Teile der jungen amerikanisch-jüdischen Gemeinschaft ein. Ich bin mir also nicht sicher, ob auch diese deterministische Sichtweise der amerikanischen Politik der richtige Ansatz ist. Ich glaube, dass es auch eine Chance für eine andere amerikanische Politik gibt.

Zwei unterschiedliche Koalitionen

Aber ich glaube, Chris, dass es am ehesten stimmt zu sagen, dass es jetzt zwei Koalitionen gibt, wenn es um Palästina geht. Die eine nenne ich das globale Israel. Es setzt sich zusammen aus westlichen Regierungen, multinationalen Konzernen, der Rüstungsindustrie, der Sicherheitsindustrie, Gemeinschaften von christlichen Zionisten und Juden, die Israel mehr oder weniger automatisch Immunität für fast alles, was es tut, gewähren, sozusagen als eine Art Glauben.

Dagegen steht das globale Palästina. Dieses setzt sich aus Zivilgesellschaften zusammen sowie einigen Regierungen des Globalen Südens, die nicht nur pro Palästinenser sind, sondern wirklich glauben, dass der Kampf für Gerechtigkeit in Palästina sehr gut mit ihren eigenen Kämpfen gegen Ungerechtigkeit in ihren eigenen Gesellschaften verbunden ist. Und das ist die jüngere Generation der Welt.

Ich glaube, dass dieser Kampf über Palästina hinausgeht. Er verbindet ökologische Fragen, Fragen der Armut, Fragen der Rechte von Minderheiten auch in Palästina, und deshalb glaube ich nicht, dass das Kräfteverhältnis nur zwischen Amerika und dem Rest der Welt besteht. Ich denke, es gibt viel komplexere globale Koalitionen, die nicht nur für Palästina relevant sind. Aber ich sehe die Relevanz vor allem im Fall von Palästina, weil ich mich dafür interessiere. Ich bin mir jedoch sicher, dass sie auch an anderen umstrittenen Orten, an denen Konflikte noch immer wüten, sichtbar werden können.

Blick auf Gaza

Chris Hedges: Lassen Sie uns zum Abschluss einen Blick auf Gaza werfen. Zunächst möchte ich über die Ziele sprechen. Die UNO sagt, dass die Hälfte der Bewohner des Gazastreifens jetzt vom Hungertod bedroht ist. Ich war während des Krieges in Sarajewo, da gab es 300 bis 400 Granaten pro Tag, vier bis fünf Tote pro Tag, etwa zwei Dutzend Verwundete pro Tag. Das ist nur ein Vergleich. Ich will nicht herunterspielen, was in Sarajewo passiert ist, ich habe immer noch Albträume davon, aber das ist nichts im Vergleich zu dem, was in Gaza passiert, was das Ausmass der Bombardierung angeht.
Was ist das Ziel? Will man eine humanitäre Krise von solchem Ausmass herbeiführen, dass die internationale Gemeinschaft gezwungen ist, einzugreifen und sich an ethnischen Säuberungen zu beteiligen? Was dann? Sie kennen die Denkweise der Leute um Netanjahu besser als ich.

Ilan Pappé: Nun, zunächst einmal denke ich, dass es anfänglich eher ein Beharren auf Rache war als eine sehr sorgfältige Planung. Nicht alles sollte auf eine klare und systematische Planung zurückgeführt werden. Im Laufe der Tage wurde zumindest einer Gruppe innerhalb der politischen Entscheidungsträger klar, dass der Krieg einen Vorwand bietet, um den Gazastreifen loszuwerden und dass eine systematischere Planung notwendig war. Das Endresultat ist für sie die Abwanderung möglichst vieler Palästinenser aus dem Gazastreifen entweder nach Ägypten oder in andere Teile der Welt, denn wenn der Gazastreifen jetzt nicht nachhaltig ist, dann wird er es in Zukunft noch viel weniger sein. Ich denke, es gibt eine Komponente unter den israelischen Politikern, die glaubt, dass sie die Macht hat, dies zu tun.

Es gibt auch, ich nenne sie mal gemässigtere, pragmatischere Leute wie Benjamin Gantz oder Gadi Eizenkot. Sie sind im letzten Moment von der Opposition in die Regierung eingetreten. Ich weiss nicht, wie einflussreich sie am Tag danach noch sein werden. Sie haben ein bestimmtes Ziel vor Augen, nämlich einen Teil des Gazastreifens direkt an Israel anzugliedern, so dass nur noch ein kleines Stück Land mit einer grossen Anzahl von Menschen übrigbleibt, in der Hoffnung, dass jemand anderes die inneren Angelegenheiten des Gazastreifens regelt, sei es die Palästinensische Autonomiebehörde oder eine multinationale Kraft.

Sie glauben jedoch nicht, dass es überhaupt möglich ist, über Szenarien für den Tag danach zu diskutieren, bevor sie das erfüllen, was sie der israelischen Öffentlichkeit versprochen haben, und das ist etwas, was sie nicht erfüllen können. Das ist einer der Gründe für das Gemetzel, das wir sehen. Sie wollen ein Siegesfoto haben, eine Art triumphales Foto, das zeigt, dass die Hamas in Gaza nicht mehr zu sehen sind, oder zumindest nicht mehr als militärische Kraft. Ich glaube nicht, dass sie das erreichen können, aber sie glauben immer noch, dass sie es können.

Bis es so weit ist, machen sie unerbittlich weiter [und gefährden damit sogar noch mehr das Leben der immer noch etwa 130 israelischen Geiseln, die von der Hamas im Gazastreifen festgehalten werden]. Sie behaupten, dass die beiden Ziele des so genannten Landmanövers darin bestehen, die Hamas als Militärmacht zu zerstören und die Geiseln zu befreien. Die Art und Weise, wie sie sich verhalten, macht deutlich, dass sie die Geiseln aufgegeben haben. Aber sie glauben immer noch, dass sie die Macht haben, das Bild zu erreichen, das sie wollen: entweder einen toten Sinwar oder einen vertriebenen Sinwar. Oder das Szenario Libanon 1982, dass Arafat mit dem Rest der palästinensischen Führung nach Tunis geht. Das sind die Szenarien, die sie haben, und alle Mittel scheinen in ihren Augen gerechtfertigt zu sein, um das zu erreichen.

Chris Hedges: Und Sie argumentieren, dass das nicht funktionieren wird. Was passiert also, wenn sie das nicht erreichen?

Eine düstere Zukunft für Israel?

Ilan Pappé: Das ist es, was ich vorhin meinte, dass sie dort viel länger feststecken werden, als sie denken. Sie werden in einen Guerillakrieg verwickelt, der viel länger ist, als sie denken. Sie laufen Gefahr, dass jeden Tag eine Eskalation entstehen kann, die andere Faktoren und andere Akteure in diesen Konflikt bringen könnte, mit schlimmen Folgen auch für Israel selbst.

Können Sie sich vorstellen, Chris, was passiert wäre, wenn die Hisbollah am 7. Oktober einen ähnlichen Angriff auf den Norden mit der Hamas koordiniert hätte? Denken Sie daran, dass das militärische Hauptproblem für Israel darin bestand, dass der grösste Teil seiner Armee im Westjordanland war, um die Siedler zu verteidigen und ihnen bei der ethnischen Säuberung zu helfen. Es gab also nicht genug Soldaten im Norden und nicht genug Soldaten an der Grenze zum Gazastreifen, um eine Operation wie die der Hamas zu verhindern. Stellen Sie sich vor, was passiert wäre, wenn die Hisbollah mitgemacht hätte, wie Israel da rausgekommen wäre. Irgendwie haben die israelischen Politiker nichts aus dieser Lektion gelernt.

Ich glaube, dass sie Israel in eine sehr düstere Zukunft führen werden, auch für die Israelis selbst: die Zahl der Opfer, die internationale Isolation und die Wirtschaftskrise. Und sich dabei die ganze Zeit auf den amerikanischen Kongress zu verlassen, ist nicht die beste und solideste Säule in der Welt. Auch nicht um eine Zukunft für eine junge Generation aufzubauen und ihr zu sagen, dass sie am besten Ort lebt, an dem die Juden in der Welt jetzt sein können. Sie graben sich hier ihr eigenes Grab, weil sie nicht sehen wollen, was das Problem ist und welchen Preis sie zahlen müssen, wenn sie wirklich eine andere Zukunft aufbauen wollen.

Quelle: The Chris Hedges Reprot, The real news network – Interview by Chris Hedges with Ilan Pappé.
The myth of Israel's 'democracy' w/Ilan Pappé: https://www.youtube.com/watch?v=L1PKlV1JMBU

(Transkript, Übersetzung und Nachbearbeitung «Schweizer Standpunkt»)

1 [(Red.) In Israel sind Staatsbürgerschaft und Nationalität jedoch nicht dasselbe – und sollten es auch nicht sein. Der Staat Israel führt ein nationales Bevölkerungsregister, in dem jeder Einwohner sowohl nach «Staatsbürgerschaft» als auch nach «Nationalität» klassifiziert ist. Die Staatsangehörigkeit aller Israelis wird als «israelisch» angegeben. Unter «Nationalität» werden sie jedoch als Angehörige verschiedener ethnischer und religiöser Gruppen definiert, darunter Juden, Araber und Drusen.
Quelle: Israel Democracy Institute (IDI). Vice President Prof. Yedida Stern und Jay Ruderman, Is «Israeli» a Nationality? 2014]

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