Die US-Diplomatie gewinnt im Nahen Osten an Zugkraft

von M. K. Bhadrakumar,* Indien

(26. April 2024) Mit dem Ausbruch des israelischen Gaza-Krieges vor sechs Monaten entstand im Morast der Geopolitik das Narrativ, dass die Vereinigten Staaten in einen Sumpf geraten seien, der sie zu einem Rückzug aus Eurasien zwingen und die Strategie der Regierung Biden im asiatisch-pazifischen Raum erheblich schwächen würde.

Es ist fraglich, inwieweit Moskau und Peking diesem Narrativ zustimmen, da sie aufgrund ihrer Erfahrungen mit den aussenpolitischen Strategien der USA diesbezüglich skeptisch sind. Wie dem auch sei, es zeigt sich, dass die Osterweiterung der Nato, das Ende der westlichen Hegemonie im Nahen Osten und die Eindämmungsstrategie der USA gegenüber China miteinander verknüpft sind. Die Herausforderung für die Regierung Biden besteht darin, sich an eine neue Normalität anzupassen.

M. K. Bhadrakumar
(Bild zvg)

Natürlich gibt es Variablen in der Situation – in erster Linie die Ungewissheit über die Zukunft des US-Engagements. Innerhalb der USA gibt es radikal unterschiedliche Vorstellungen von der Rolle des Landes in der Welt und seinen Beziehungen zu den Verbündeten. Im Ausland gibt es Bedenken hinsichtlich des amerikanischen Isolationismus und der Verlässlichkeit, unabhängig davon, welcher Kandidat die Wahlen im November gewinnt.

Allein in der vergangenen Woche haben sich die Spannungen im Nahen Osten gefährlich zugespitzt, was US-Präsident Joe Biden nicht davon abgehalten hat, einen wahrhaft historischen Staatsbesuch des japanischen Premierministers Fumio Kishida zu empfangen. Dabei ging es vor allem um die Spannungen in der Strasse von Taiwan. Die USA und Japan haben mehr als 70 Verteidigungsabkommen unterzeichnet, und es wird viel über die Aufnahme Japans in AUKUS und die Five Eyes gesprochen.1 Biden und Kishida nahmen auch an einem erstmals stattfindenden trilateralen Gipfeltreffen mit dem philippinischen Präsidenten Ferdinand Marcos Jr. teil, bei dem es um die Eindämmung Chinas ging.2

Washington kündigte erneut Sanktionen3 gegen die Einfuhr von Aluminium, Kupfer und Nickel russischer Herkunft an und stimmte sich mit dem Vereinigten Königreich ab, um den Handel mit diesen Metallen an den Weltbörsen zu unterbinden, um «die Einnahmen zu treffen, die Russland zur Finanzierung seiner Militäroperation in der Ukraine erzielen kann».

Auf der Tagesordnung der Nato-Aussenminister, die am 3. und 4. April in Brüssel zum fünfundsiebzigsten Jahrestag des Bündnisses zusammentrafen, stand eine Diskussion darüber, «wie die Nato mehr Verantwortung für die Koordinierung von militärischer Ausrüstung und Ausbildung für die Ukraine übernehmen und dies in einem robusten Nato-Rahmen verankern könnte». Das sieht nicht nach einem Rückzug der USA aus Eurasien aus.

Tatsächlich betonte Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg,4 dass «die Ukraine Mitglied der Nato werden wird. Es ist eine Frage des Wann, nicht des Ob». Er brachte den Krieg in der Ukraine auch mit den zunehmenden Spannungen um Taiwan in Verbindung. In seinen Worten: «Russlands Freunde in Asien sind für die Fortsetzung seines Angriffskrieges unerlässlich. China stützt Russlands Kriegswirtschaft. Im Gegenzug verpfändet Moskau seine Zukunft an Peking.» Stoltenberg formulierte den Standpunkt der USA.

Biden brachte bei einem Telefongespräch5 mit dem chinesischen Präsidenten Xi Jinping am 2. April die «Besorgnis Washingtons über die Unterstützung der russischen Rüstungsindustrie durch die VR China und deren Auswirkungen auf die europäische und transatlantische Sicherheit» (!) zur Sprache.

Die USA und die NATO sind zwar nicht darauf vorbereitet, einen Wirtschaftskrieg mit Russland in Europa zu führen, aber es ist offensichtlich auch nicht so, dass die USA auf dem Rückzug sind. Der bevorstehende Nato-Gipfel in Washington im Juli wird sicherlich vom Ukraine-Krieg und der doppelten Eindämmung Russlands und Chinas dominiert werden.

Einigen Berichten zufolge gibt es unter den Nato-Ländern – Frankreich, Grossbritannien und Polen – bereits Gespräche darüber, dass sie eingreifen sollten, um die Frontlinie zu halten, falls die russische Offensive den Dnjepr erreicht und das ukrainische Militär vor Erschöpfung zusammenbricht.

Biden wandte sich im April mit einer Mitteilung an den Kongress,6 in der er die Verlängerung des mit der Executive Order 14024 (vom 15. April 2021) verhängten nationalen Notstands «in Bezug auf bestimmte schädliche ausländische Aktivitäten der Regierung der Russischen Föderation» um ein weiteres Jahr empfiehlt. Nach Einschätzung der USA ist der Krieg in der Ukraine noch lange nicht vorbei, und es wird ein langer Weg sein, bis Russland die Kontrolle über das gesamte Land erlangt.

Es ist offensichtlich, dass die Krise im Nahen Osten alles andere als ein «alleinstehendes» Ereignis ist. Man darf nicht vergessen, dass die BRICS-Mitgliedschaft von vier Ländern des Nahen Ostens, die vormals Verbündete der USA waren, den Untergang des Petrodollars markiert. Die Entscheidung fügt sich in das russische Projekt der «Entdollarisierung» und der Zurückdrängung der US-Hegemonie ein.

Einer der vier regionalen Staaten, die den BRICS beigetreten sind, ist der Iran, ein eifriger Befürworter der «Entdollarisierung», mit dem die Regierung Biden wegen der Lage im Nahen Osten in Kontakt steht. Die jüngsten Entwicklungen nach dem israelischen Angriff in Damaskus haben zu einer Intensivierung der Kontakte geführt, um Missverständnisse zu vermeiden.

Diese Kontakte haben in letzter Zeit ein qualitativ neues Niveau erreicht. Ein gewisses Mass an Koordinierung ist nun möglich, wie die gezielten Drohnen- und Raketenangriffe des Irans7 auf Israel in der Nacht zum Samstag gezeigt haben.

In einem Kommentar der iranischen Nachrichtenagentur IRNA8 werden sieben «Dimensionen» der iranischen Vergeltungsmassnahmen genannt. Nun, die USA haben zweifelsohne einen mässigenden Einfluss auf Israel. Berichten aus Washington zufolge hat Biden die rote Linie so festgelegt, dass sich die USA an künftigen israelischen Vergeltungsmassnahmen gegen den beispiellosen direkten Angriff des Irans in der Nacht zum Samstag [13. April] nicht beteiligen werden.

Eine solch dramatische Wendung der Machtdynamik in der Region war bisher einfach undenkbar. IRNA stellte fest, dass dies ein Zeichen dafür sei, «dass der Hauptunterstützer des zionistischen Regimes diese Sache verstanden hat». Die grosse Frage ist nun, wohin das alles führen wird.

Sicher ist, dass die US-Diplomatie an Zugkraft gewinnt, was sich positiv auf die nachfolgenden Ereignisse im Zusammenhang mit dem Palästina-Problem auswirken wird. In den letzten sechs Monaten hat Washington seine Vernetzung mit seinen traditionellen Verbündeten – insbesondere Katar, Saudi-Arabien, Ägypten und der Palästinensischen Autonomiebehörde – intensiviert.

In dem Masse, in dem sie sich zu einer praktischen Zusammenarbeit entwickelt, um den Gazastreifen aus dem dunklen Tunnel des Krieges und des Blutvergiessens herauszuführen, wird sie das Ansehen der USA als Friedensstifter insgesamt stärken und es ihnen sogar ermöglichen, die Führungsrolle, die sie früher innehatten, in neuer Form wiederzuerlangen.

Wie sich die Kontakte zwischen den USA und dem Iran in Zukunft entwickeln werden, bleibt abzuwarten. Werden die aufkeimenden Bestrebungen einen plötzlichen Tod sterben? Oder werden sie eine kritische Masse an gegenseitigem Vertrauen schaffen, so dass sich die tief gestörten Beziehungen in eine funktionierende Beziehung verwandeln? Die gegenseitige Rhetorik zwischen den USA und dem Iran hat sich in der letzten Zeit erheblich abgeschwächt.9

Es ist Teheran hoch anzurechnen, dass es die Zeichen der Zeit früh genug erkannt hat, als sich erste Differenzen zwischen Washington und Tel Aviv abzeichneten. Teheran spürte richtig, dass diese Differenzen in Zwietracht umschlagen könnten.

In der Zwischenzeit sind die USA realistisch genug, um zu verstehen, dass die Eindämmungsstrategie gegen den Iran ihren Nutzen verloren hat und eine weitere Verfolgung dieser Strategie sinnlos wird, wenn die regionalen Staaten eine Versöhnung vorziehen.

In der Tat hat der Iran dank der Stärkung seiner Beziehungen zu Russland und China und der Annäherung an Saudi-Arabien an strategischer Tiefe gewonnen und seine strategische Autonomie gestärkt. Die tiefe Bedeutung des direkten iranischen Raketenangriffs auf Israel kann niemandem entgehen.

Im IRNA-Kommentar heisst es:10 «Der iranische Angriff war die erste direkte Konfrontation zwischen der Islamischen Republik und dem zionistischen Schwindel-Regime. Dies ist historisch gesehen sehr bedeutsam. Wirksame Angriffe tief im Inneren der besetzten Gebiete waren seit 1967 ein unerfüllter Traum der islamischen Länder, der nun dank der Bemühungen der Wiege des Widerstands in der Region in Erfüllung gegangen ist. Zum ersten Mal überhaupt haben iranische Flugzeuge Feinde der Al-Aqsa-Moschee am Himmel über dieser heiligen Stätte angegriffen.»

Die USA wissen, dass der Iran ein harter Verhandlungspartner ist, der keine Kompromisse bei seinen Interessen eingehen wird. Washington wird versuchen, einen Keil in die russisch-iranischen Beziehungen zu treiben, und auf verlockende Möglichkeiten setzen, Moskau unter den Bedingungen der Sanktionen zu isolieren.

Der Iran ist für die europäischen Volkswirtschaften ein idealer Energiepartner um Russland zu ersetzen. Die Chancen stehen gut, dass die Endspiele im Ukraine-Krieg und im israelisch-arabischen Konflikt, die parallel zueinander verlaufen, in Zukunft Synergien erzeugen werden.

*  M. K. Bhadrakumar hat rund drei Jahrzehnte als Karrierediplomat im Dienst des indischen Aussenministeriums gewirkt. Er war unter anderem Botschafter in der früheren Sowjetunion, in Pakistan, Iran und Afghanistan sowie in Südkorea, Sri Lanka, Deutschland und in der Türkei. Seine Texte beschäftigen sich hauptsächlich mit der indischen Aussenpolitik und Ereignissen im Mittleren Osten, in Eurasien, in Zentralasien, Südasien und im Pazifischen Asien. Sein Blog heisst «Indian Punchline». (Weitere Informationen zu seiner Person: siehe Kasten am Ende des Textes.)

Quelle: https://www.indianpunchline.com/us-diplomacy-gains-traction-in-middle-east/, 15. April 2024

(Übersetzung «Schweizer Standpunkt»)

1 https://www.whitehouse.gov/briefing-room/speeches-remarks/2024/04/10/remarks-by-president-biden-and-prime-minister-kishida-fumio-of-japan-in-joint-press-conference/ and
https://www.whitehouse.gov/briefing-room/statements-releases/2024/04/10/united-states-japan-joint-leaders-statement/

2 https://www.whitehouse.gov/briefing-room/statements-releases/2024/04/11/joint-vision-statement-from-the-leaders-of-japan-the-philippines-and-the-united-states/ and
https://www.whitehouse.gov/briefing-room/statements-releases/2024/04/12/joint-readout-of-inaugural-u-s-philippines-33-meeting/

3 https://www.state.gov/taking-actions-to-reduce-russias-revenue-from-metals-trade/

4 https://www.nato.int/cps/en/natohq/opinions_224111.htm

5 https://www.whitehouse.gov/briefing-room/statements-releases/2024/04/02/readout-of-president-joe-bidens-call-with-president-xi-jinping-of-the-peoples-republic-of-china/

6 https://www.whitehouse.gov/briefing-room/presidential-actions/2024/04/09/message-to-the-congress-on-the-continuation-of-the-national-emergency-with-respect-to-specified-harmful-foreign-activities-of-the-government-of-the-russian-federation/

7 https://edition.cnn.com/2024/04/14/middleeast/iran-israel-attack-drones-analysis-intl/index.html

8 https://en.irna.ir/news/85443880/Seven-key-points-on-Iran-s-attack-on-Israeli-regime

9 https://en.irna.ir/news/85444691/Iran-had-no-choice-but-to-punish-Zionist-regime

10 https://en.irna.ir/news/85443880/Seven-key-points-on-Iran-s-attack-on-Israeli-regime

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