Indien sollte vorsichtig vorgehen

von M. K. Bhadrakumar,* Indien

(9. Mai 2025) (CH-S) In der indischen Region Kaschmir haben am 22. April mutmassliche Extremisten auf Touristen geschossen und dabei nach Polizeiangaben mindestens 26 Menschen getötet. Unter den Opfern befanden sich grösstenteils Besucher aus verschiedenen Teilen Indiens sowie mehrere Menschen aus dem Erholungsgebiet nahe Pahalgam. Die Situation zwischen Indien und Pakistan ist sofort eskaliert – in der seit Jahrzehnten umstrittenen Region Kaschmir beschuldigen sich die beiden Nachbarländer gegenseitig, Unruhe zu stiften.

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M. K. Bhadrakumar
(Bild zvg)

Gerade als die Inder eine entschlossene Reaktion auf den Terroranschlag in Pahalgam in Kaschmir forderten, nahm US-Präsident Donald Trump Premierminister Narendra Modi beiseite, um ihm zu signalisieren, dass die Gespräche mit Indien über ein Handelsabkommen1 «sehr gut vorankommen» und dass die beiden Länder «eine Einigung über Zölle erzielen werden».Wenn es eine sanfte Erinnerung an die nationalen Prioritäten Indiens brauchte, dann war dies der beste Zeitpunkt. Trump hat seine eigene Art, Dinge zu vermitteln, die mit Worten und Klischees nicht ausgedrückt werden können, wenn es um Krieg und Frieden geht. Es ist gut, dass Modi daraufhin deutlich festhielt, dass Indiens Entschlossenheit, dem Terrorismus einen vernichtenden Schlag zu versetzen, niemals in Frage gestellt werden dürfe – die Streitkräfte hätten jedoch «die vollständige operative Freiheit, über die Art, die Ziele und den Zeitpunkt der Reaktion zu entscheiden».

Premierminister Narendra Modi (Mitte) leitet eine Sitzung mit
Verteidigungsminister Rajnath Singh (links), dem nationalen Sicherheits-
berater Ajit Doval (rechts) und hochrangigen Militärs in Neu-Delhi am
29. April 2025. (Bild zvg)

Der Premierminister bekundete Berichten zufolge sein volles Vertrauen in die professionellen Fähigkeiten der Streitkräfte. Es handelt sich um eine historische Entscheidung,2 die von jeder gewählten Regierung in einer Demokratie getroffen werden kann. Die Auswirkungen sind tiefgreifend, denn letztlich gibt es auch eine Kehrseite in Bezug auf die Übertragung von Befugnissen – nämlich die berühmte Barnaby-Regel (die weithin dem verstorbenen Donald Rumsfeld zugeschrieben wird). Das heisst, wer das Porzellan zerschlägt, muss es auch wieder reparieren.

Interessanterweise gab Modi seine Entscheidung bei einem exklusiven Treffen bekannt, an dem Verteidigungsminister Rajnath Singh und der Nationale Sicherheitsberater Ajit Doval (der auch als Chef der geheimen Operationen Indiens im Ausland bekannt ist) sowie die obersten Führungskräfte teilnahmen. Innenminister Amit Shah war nicht anwesend.

Später am Abend empfing Modi auch den Vorsitzenden der Rashtriya Swayamsevak Sangh (RSS),3 Mohan Bhagwat, in seiner Residenz, um damit, wie eine nationale Tageszeitung schrieb, «die nationalen Interessen über das Protokoll zu stellen». Allerdings sollte man sich keine falschen Vorstellungen darüber machen, wie Bhagwat denkt. Vor fünf Tagen hatte er erklärt: «Wir hoffen auf eine starke Reaktion (auf den Pahalgam-Angriff).»

Bhagwat hatte gesagt: «Wir sind tief betroffen. Wir sind wütend. Aber um das Böse zu vernichten, muss Stärke gezeigt werden. […] Hass und Feindseligkeit liegen nicht in unserer Natur. Aber auch nicht, Schaden stillschweigend zu erdulden. Ein wahrhaft gewaltfreier Mensch muss auch stark sein. Ohne Stärke gibt es keine Auswahl. Aber wenn Stärke vorhanden ist, muss sie bei Bedarf auch sichtbar werden.»

Alles deutet darauf hin, dass die Regierung aufgrund des Terroranschlags vom 22. April durchaus militärische Optionen gegen Pakistan in Betracht zieht. Auch Pakistan scheint dies zu spüren. Die Spannungen eskalieren entlang der ehemaligen Kontrolllinie (LoC),4 die sich bis zu dieser Woche noch gehalten hatte, nun aber rasch auflöst, da Pakistan als Reaktion auf die diplomatischen Schritte Delhis beschlossen hat, alle bilateralen Verträge mit Indien, einschliesslich des Simla-Abkommens, auszusetzen.

Die internationale Reaktion hält sich bislang, wie Trumps jüngste Äusserung zeigt, mit einer Unterstützung der Kriegsoption zurück. Tatsächlich hat kein Land, auch nicht unser «bewährter» Freund Russland oder der sogenannte Globale Süden, Verständnis für die in Indien geäusserten Forderungen nach einem militärischen Vorgehen gegen Pakistan. China hingegen hat eine ausserordentlich unterstützende Haltung eingenommen5 und sich für die Souveränität und Sicherheit Pakistans verbürgt.

Mit anderen Worten: Wie Bhagwat unter Berufung auf unsere alten Epen betonte, masst sich Indien das moralische Vorrecht an,6 seine militärische Stärke in einer «sichtbaren» Weise in einem externen Umfeld im Zeitalter der Thermonuklearwaffen und inmitten hochkomplexer geopolitischer Manöver der Grossmächte und der internationalen Gemeinschaft einzusetzen, die sich wiederum in einer Übergangsphase von einer Weltordnung zu einer anderen befindet, die noch um ihre Entstehung ringt.

Täuschen Sie sich nicht, dies wird in Zukunft enorme Auswirkungen haben. Pakistan hat die internationale Gemeinschaft sogar gewarnt,7 dass jegliche militärischen Schritte Indiens «mit Sicherheit und Entschlossenheit beantwortet werden. […] Die Verantwortung für eine Eskalationsspirale und deren Folgen wird allein bei Indien liegen.» In dieser Erklärung schwingt eine versteckte Drohung mit, dass im Extremfall sogar die nukleare Schwelle erreicht werden könnte.

Tatsächlich erlaubt die pakistanische Nukleardoktrin einen Erstschlag, wenn die Existenz des Landes als bedroht angesehen wird. Drei Schwellenwerte wurden festgelegt: die Verhinderung der Wasserzufuhr nach Pakistan (gemäss dem Indus-Wasservertrag), jegliche Seeblockade und die Besetzung pakistanischen Territoriums durch ausländische Truppen.

Angesichts der Gesamtsituation ist es unwahrscheinlich, dass Pakistan einlenken wird. Es beharrt darauf, dass es ebenfalls Opfer des aus Indien ausgehenden Terrorismus ist. Und es hat offen angedeutet, dass es im Falle einer indischen Offensive nicht zögern werde, die Eskalationsleiter weiter hinaufzusteigen. Es liegt auf der Hand, dass es zu einer raschen Eskalation kommen könnte, sofern Indien nicht den russischen Weg eines über Jahre hinweg geführten Zermürbungskrieges einschlägt, was jedoch völlig ausgeschlossen ist.

Darin liegt das Problem: Wie kann man deeskalieren, wenn (nicht falls) die Notwendigkeit/ die Erfordernis entsteht? Man kann argumentieren, dass Indien selbst in der radikal veränderten internationalen Lage nach dem Kalten Krieg noch immer einer Vermittlung durch Dritte gegenüber verschlossen ist.

Andererseits unterhält Indien nur eine schwache Kommunikationsverbindung zu Pakistan, die vermutlich noch offen ist – die «Hotline» zwischen den beiden Generaldirektoren für militärische Operationen. Wie schwach diese Verbindung auch sein mag, in einer Zeit, in der die Emotionen auf beiden Seiten hochkochen, sollte darüber nachgedacht werden, sie aufrechtzuerhalten – und, was noch wichtiger ist, nicht zu zögern, sie zu nutzen. Schliesslich haben die beiden Streitkräfte eine lange Geschichte als vernünftige, realistische und pragmatische Gegner, die sich gegenseitig verstehen.

Sie wissen, dass Krieg eine ernste Angelegenheit ist, insbesondere für Männer in der Blüte ihrer Jugend, die, ohne mit der Wimper zu zucken, für ihr Land ihr Leben an der Front opfern würden – und auch ihre Familien und Angehörigen in unserem weitläufigen Land sind schliesslich ebenfalls betroffen. Selbst in hybriden Kriegen – oder verdeckten Operationen – gibt es einen menschlichen Faktor.

Manchmal brauchen Länder, die sich wie Lotusse8 verhalten und ein träumerisches, träges Leben führen, ein böses Erwachen. Wenn dies ein solcher Moment ist, dann wäre der Tod von 26 Indern nicht umsonst gewesen.

*  M. K. Bhadrakumar hat rund drei Jahrzehnte als Karrierediplomat im Dienst des indischen Aussenministeriums gewirkt. Er war unter anderem Botschafter in der früheren Sowjetunion, in Pakistan, Iran und Afghanistan sowie in Südkorea, Sri Lanka, Deutschland und in der Türkei. Seine Texte beschäftigen sich hauptsächlich mit der indischen Aussenpolitik und Ereignissen im Mittleren Osten, in Eurasien, in Zentralasien, Südasien und im Pazifischen Asien. Sein Blog heisst «Indian Punchline».

Quelle: https://www.indianpunchline.com/india-should-tread-warily-on-battlefield/, 30. April 2025

(Übersetzung «Schweizer Standpunkt»)

1 https://www.hindustantimes.com/world-news/donald-trump-says-tariff-talks-with-india-going-great-expects-a-trade-deal-soon-101745953085967.html

2 https://www.newindianexpress.com/nation/2025/Apr/29/pm-modi-says-armed-forces-have-full-freedom-to-decide-on-targets-timing-of-response

3 https://www.thehindu.com/news/national/rss-chief-mohan-bhagwat-meets-prime-minister-modi-in-wake-of-pahalgam-terror-attack/article69506330.ece

4 https://kashmirreader.com/2025/04/29/loc-flare-up-in-poonch-kupwara/

5 https://www.globaltimes.cn/page/202504/1332978.shtml

6 https://www.hindustantimes.com/india-news/teaching-lesson-to-hooligans-is-also-our-religion-rss-chief-mohan-bhagwat-on-pahalgam-terror-attack-101745680274161.html

7 https://www.newindianexpress.com/world/2025/Apr/30/india-planning-military-action-in-next-24-36-hours-will-face-consequences-pakistan-2

8 «Lotusse» eine metaphorische Anspielung auf die Lotusesser (oder Lotosesser) aus der griechischen Mythologie. Die Lotusesser tauchen in Homers Odyssee auf. Sie leben auf einer Insel und ernähren sich von der Frucht der Lotusblume. Diese hat eine betäubende Wirkung: Wer davon isst, vergisst seine Ziele und Wünsche – vor allem die Rückkehr nach Hause – und verfällt in einen Zustand von Gleichgültigkeit und träger Zufriedenheit.

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