«USA und China sollen für die Weltgemeinschaft eine gemeinsame Verantwortung übernehmen»

von Prof. em. Beat Schneider,* Bern

(29. März 2024) (Red.) Dieser Betrag entstand aus einem Vortrag, den Beat Schneider im Rahmen einer Veranstaltung des «Schweizer Standpunkt» zum Thema «Gedanken zur chinesischen Modernisierung – Ist China ein kapitalistisches Land?» am 22./23.März 2024 gehalten hat. Der Autor bezieht sich dabei auf sein aktuellstes Buch «Chinas langer Marsch in die Moderne». Dieses zeichnet sich vor allem durch folgende beide Charakteristika aus: Es geht in der Darstellung Chinas von einem konsequent nicht-eurozentristischen Standpunkt aus und es stellt die Kultur Chinas als eine Kultur des «Sowohl-als-auch» dar.

Beat Schneider. (Photo sv)

Zur chinesischen Kultur des «Sowohl-als-auch»

China kann man nicht verstehen, wenn man es nicht als 5000-jährige Kultur des Sowohl-als-auch versteht. In Chinas geistiger Tradition steht das Prinzip der Einheit der Gegensätze in dem Einen, das Konzept des Weges zur Harmonie (chin.: dao), das Konzept der Mitte (chin.: zhongyang) und die Idee der Disponibilität im Mittelpunkt.

Zum Prinzip der Einheit der Gegensätze: Alle Erscheinungen der Welt lassen sich auf gegensätzliche polare Kräfte zurückführen, wie Yin und Yang, hart und weich, Flut und Ebbe. Sie schliessen sich nicht aus, sondern erzeugen sich gegenseitig und sind dasselbe in Einem. Dieselbe Talseite steht am Morgen in der Sonne und am Abend im Schatten. Helligkeit kann nur im Verhältnis zu Dunkelheit, Schönheit nur im Verhältnis zu Hässlichkeit existieren.

Zum Konzept der Mitte: In der chinesischen Kultur geschieht vieles aus der Mitte heraus. Mitte bedeutet nicht biederes Mittelmass des Vorsichtig-auf-Distanz-Bleibens, sondern dass man das Eine ebenso tun kann wie das Andere, indem man offen ist für Beides. Erst so kann man Kompromisse finden und Widersprüche versöhnen. Das macht die Mitte aus: die Kategorie des Sowohl-als-auch.

Darin liegt auch der Kern der Idee der sogenannten Disponibilität, welche bedeutet, dass man sich aus der Weisheit des Augenblicks heraus für alle Möglichkeiten offenhält. Anpassungsfähigkeit und Flexibilität sind für westliche Menschen negativ konnotiert. Sie werden nicht verstanden und fälschlicherweise als Ausdruck von Unzuverlässigkeit, List, Opportunismus und Durchtriebenheit taxiert.

Zur westlich-abendländischen Kultur des «Entweder-oder»

Die chinesische Kultur des Sowohl-als-auch steht in fundamentalem Gegensatz zur westlich-abendländischen Kultur. Dort steht die Kategorie des «Entweder-oder» im Vordergrund. Die westliche Kultur ist darin geübt, die Welt in strikten Dichotomien (dt.: Zweiteilungen) zu denken, in Freund und Feind, Freiheit und Unfreiheit, Schwarz und Weiss, Gut und Böse. Der deutsche Soziologe Max Weber hat von einem Grundunterschied zwischen konfuzianischem und westlichem Rationalismus gesprochen, der in der konfuzianischen Anpassung an die Welt und der westlichen Beherrschung der Welt bestehe.

Reaktionen auf geopolitischer Ebene

Auf geopolitischer Ebene sind wir mit der Auseinandersetzung zwischen den beiden Weltmächten USA und Volksrepublik China (VRCh) konfrontiert. Die USA reagieren auf den Aufstieg Chinas mit einem Dominanz- und Ausschliesslichkeitsverhalten, mit einem Entweder-oder: entweder die USA oder die VRCh. China müsse mit allen Mitteln zurückgedrängt und vom wirtschaftlichen und politischen Weltsystem abgekoppelt werden (engl.: De-Coupling). So forderte US-Präsident Joseph Biden unverblümt den «Garaus des Rivalen», und sein Aussenminister Anthony Blinken meinte, dass China «aus dem Feld geschlagen» werden müsse und dass die USA im Machtkampf gegen China sicher siegen würden.

China reagiert darauf mit dem typischen Sowohl-als-auch: Es gibt sowohl die USA als auch China. Beide haben verschiedenartige Systeme und stark differierende Grundhaltungen. Trotzdem können und sollen beide nebeneinander existieren, kooperieren und für die Weltgemeinschaft eine gemeinsame Verantwortung übernehmen. Entsprechend meint der chinesische Staatspräsident Xi Jinping, dass die Menschheit ein gemeinsames Schicksal teile (engl.: shared future for mankind) und folglich die internationale Gemeinschaft fest zusammenhalten und kooperieren müsse, um gemeinsam die wirtschaftlichen und gesundheitlichen Krisen zu bewältigen.

Auf innenpolitischer Ebene

Das Sowohl-als-auch von Entfesselung und staatlicher Bändigung der Produktivkräfte, von Wettbewerb und langfristiger staatlicher Planung, von Innovation und Kontrolle, ist die grosse Stärke der neueren chinesischen Entwicklung und gleichzeitig der systemische Vorteil der VRCh gegenüber den Staaten des kapitalistischen Westens. Es löste eine unglaubliche ökonomische und gesellschaftliche Dynamik aus, die ihresgleichen sucht und im Westen nur Staunen hervorrief.

Im Verhältnis zur eigenen Geschichte und Tradition meint das Sowohl-als-auch, dass die kulturelle Stärke eines Volkes darin bestehe, dass es eine starke Identität von Gegenwart und Vergangenheit entwickle. Und tatsächlich spielte und spielt China in der Verbindung von Gegenwart und Tradition gleichzeitig auf zwei mentalen Klaviaturen und es weiss exzellent damit umzugehen. Deshalb hat es sich die Instrumente des kapitalistischen Westens angeeignet, ohne selber zu «verwestlichen». Das macht das chinesische politische System besonders vital und widerstandsfähig und ist das Besondere des sogenannten «Sozialismus mit chinesischen Merkmalen».

Zum Eurozentrismus

Wenn man das heutige China verstehen will, muss man sich in einen nicht-eurozentristischen Standpunkt versetzen können. Doch was ist Eurozentrismus?

Er versteht Weltgeschichte verengt als abendländisch-westliche Geschichte, als Prozess der Aneignung, beziehungsweise der Enteignung der aussereuropäischen Welt, gewissermassen als Einbahnstrasse der Verwestlichung der übrigen Welt, als Export der überlegenen christlich-abendländischen und westlich-kapitalistischen Zivilisation: Sei es in Form von Missionierung und Kreuzzügen, sei es in Form von Kolonisierung und wahlweise auch von Versklavung, sei es in Form von Kapital-, Kriegs- und Demokratieexport. Resultat war in jedem Fall die Unterordnung der nicht-weissen Zivilisationen.

Das führte im 19. Jahrhundert zu einer Aufteilung und Polarisierung der Welt in zwei ungleiche Hälften. Hier die reiche «entwickelte» Welt der Minderheit der Privilegierten des globalen Nordens, dort die arme «unterentwickelte» Welt der Mehrheit der Kolonisierten und Unterprivilegierten des globalen Südens. Die Zweiteilung war für Europa lange Zeit ein sehr erfolgreiches und nicht hinterfragtes Geschäfts- und Akkumulationsmodell.

Eurozentrismus ist also nicht nur eine Frage des Blickwinkels oder eine geistige Verfassung mit Überlegenheitsanspruch, sondern vor allem auch ein wirtschaftlich ertragreiches und kulturell, religiös und philosophisch gut gepolstertes Geschäftsmodell. Bekanntlich auch ein folgenschweres, beziehungsweise verheerendes Modell. Seine Opfer waren vor allem die kolonisierten Völker des globalen Südens und dann im 20. Jahrhundert die Millionen Toten der grossen, vom Westen angezettelten Kriege. Sie alle bezahlten für dieses Geschäftsmodell einen hohen Blutzoll.

* Beat Schneider (1946) ist emeritierter Professor für Kunst- und Designgeschichte. Er lehrte an der Hochschule der Künste Bern (HKB). Er ist Autor folgender Bücher: «Penthesilea. Die andere Kultur- und Kunstgeschichte. Sozialgeschichtlich und patriarchatskritisch» (1999); «Design. Eine Einführung. Entwurf im sozialen, kulturellen und wirtschaftlichen Kontext» (2005); «Geheimnisvolles Kreta. Erste Hochkultur Europas» (2013); «Chinas langer Marsch in die Moderne. Zwanzig nicht-eurozentristische Thesen» (2023). Politisch ist Beat Schneider ein 1968er und war Gründungsmitglied und in der nationalen Leitung der Progressiven Organisationen der Schweiz (POCH). Für diese war er während zwölf Jahren im bernischen Grossen Rat und im Stadtrat der Stadt Bern.

Zurück