Warum niemand für Frieden in der Ukraine einsteht

Guy Mettan (Bild zvg)

von Guy Mettan,* freier Journalist, Genf

(9. Mai 2022) [2. Mai 2022] Man hat es seit Beginn des Konflikts geahnt, aber nun ist es erwiesen, dass es in der Ukraine für lange Zeit keinen Frieden geben wird.

Am Tag nach ihrer vertraulichen Reise nach Kiew am 24. April haben der US-Verteidigungsminister Lloyd J. Austin und der US-Aussenminister Antony Blinken bei ihrer Rückkehr nach Polen Farbe bekannt: Sie wollen «Russland so geschwächt sehen, dass es Dinge wie eine Invasion der Ukraine nicht mehr tun kann». Ein Sprecher des Nationalen Sicherheitsrats der USA fügte hinzu: Wir wollen «diese Invasion in eine strategische Niederlage für Russland» und einen «Sieg für die Ukraine» verwandeln.1

Beispiellose Eskalation der US-Militärinvestitionen

Sie liessen ihren Worten Taten folgen und kündigten umgehend zusätzliche Waffenlieferungen an die Ukraine im Wert von 700 Millionen US-Dollar an, womit sich die US-Kriegsanstrengungen seit dem 24. Februar auf 3,7 Milliarden US-Dollar belaufen, zu denen noch die 4,6 Milliarden US-Dollar für 2021 und die von den Europäern gelieferten oder zugesagten Waffen im Wert von mehreren Milliarden Euro hinzukommen.2 Vier Tage später leitete Joe Biden eine beispiellose Eskalation in der Geschichte der US-Militärinvestitionen ein, indem er im Kongress einen Antrag auf 33 Milliarden Dollar Hilfe für die Ukraine stellte, davon 20 Milliarden für Offensivwaffen, während Nancy Pelosi am Sonntag heimlich nach Kiew reiste, um Präsident Wolodymyr Zelensky ihre Wertschätzung zu erklären. Der Kriegswahn, den man Wladimir Putin im Februar vorgeworfen hatte, scheint nun auch den Westen erfasst zu haben, was jede Aussicht auf Frieden oder auch nur einen Waffenstillstand höchst unwahrscheinlich macht und diesen Konflikt zum mit Abstand gefährlichsten seit 1945 werden lässt. Der Westen und die Nato scheinen entschlossen zu sein, bis zum letzten Ukrainer und, wenn möglich, bis zum letzten Russen zu kämpfen.

Beide Seiten sind nun in ihren bis zum Äussersten gehenden Gewissheiten gefangen: Als Russland zuerst zuschlug, gab dies indirekt den USA Recht, die Putins Kriegstreiberei anprangerten. Aber indem die USA aus einem Nachbarschaftskonflikt und einem regionalen Sicherheitsproblem einen globalen Krieg zur Vernichtung des russischen Feindes machten, gaben sie Putin Recht, der in der feindseligen Haltung der Nato und der USA seit den 2000er-Jahren eine tödliche Bedrohung für die Existenz seines Landes sah.

Von da aus gesehen ist nicht klar, wie selbst ein heikler Frieden entstehen könnte.

Somit wird die Affäre um die mutmasslichen Kriegsverbrechen in Butcha ein entscheidender Wendepunkt gewesen sein, da sie eine Versöhnung zwischen der Ukraine und Russland unmöglich und Verhandlungen zwischen den beiden Parteien sinnlos gemacht hat. Es ist daher kein Zufall, dass sich die militärischen Operationen seit einem Monat von einem Bewegungskrieg (in der Sprache von 1914–18), zu einem Abnutzungskrieg und kleinen territorialen Gewinne gewandelt haben, da Russland nunmehr die «Befreiung» der Ost- und Südukraine fordert.

Eine neuartige militärische Konfrontation

Betrachten wir jedoch zunächst die Merkmale dieser neuartigen militärischen Konfrontation zwischen den beiden grossen atomaren Supermächten. Bereits Ende Februar wurde deutlich, dass die militärischen Operationen weit über die Ukraine hinausgingen und dass die Nato massiv mobilisiert wurde, sowohl in Bezug auf Waffenlieferungen und Training als auch auf Truppenführung, Nachrichtendienste, Radar- und Satellitenüberwachung, Cyberkrieg, Propaganda und Information sowie Wirtschaftssanktionen. Wie Radio Canada berichtete, sind kanadische Ausbilder sogar seit Jahren in der Ukraine präsent und bilden sogar Extremisten der Asow-Bataillone aus, obwohl ihnen dies aufgrund eines nationalen Gesetzes untersagt ist.3 Siehe auch den Bericht des französischen Reporters Régis Le Sommier, der von einem US-Offizier in die Mangel genommen wurde, als er Freiwillige an die Front begleitete.4

Tatsächlich sind viele Nato-Länder in allen Bereichen aktiv gegen Russland engagiert. Man kann also durchaus von einem «totalen Krieg» (vgl. den Podcast Anti-thèse mit Gabriel Galice vom 14. April5) oder besser von einem unbegrenzten Krieg sprechen. Indem die USA verkündeten, dass es nun darum gehe, «Russland zu besiegen», haben sie die Spannung noch weiter erhöht.

Dieser Krieg ist zeitlich unbegrenzt – er soll so lange wie möglich dauern und mit der höchstmöglichen Intensität, wobei die einzige Einschränkung die nukleare Schwelle ist. Er unterscheidet sich daher von den Kriegen in Afghanistan gegen die Sowjets und in Syrien zwischen 2015 und 2018 durch ein höheres Mass an Aggressivität, ist aber nicht total, da die nukleare Ebene (noch) nicht eingesetzt wird.

Der Krieg ist auch räumlich unbegrenzt, da der Konflikt über die territorialen Grenzen der Ukraine hinausgeht und versucht, Russland und seine unmittelbare Nachbarschaft von Finnland bis Zentralasien zu destabilisieren – und das Land sogar zu zerlegen und dessen Regierung zu stürzen –, während er durch ständig neue Wirtschaftssanktionen und enormen Druck auf Staaten, die sich weigern, bei diesen Aktivitäten mitzumachen, Russland vom Rest der Welt isolieren will.

Schliesslich ist dieser Krieg in seinem Aktivitätsspektrum unbegrenzt, da er sich in allen Bereichen der menschlichen Aktivität entfaltet: militärisch, kognitiv, kulturell, wirtschaftlich, politisch, informationsbezogen, raumfahrttechnisch, wissenschaftlich etc.

Zwei Welten, die sich gegenüberstehen

Es sind also zwei Welten, die sich in einem erbarmungslosen Kampf gegenüberstehen: die eine, die vorgibt, für den Erhalt ihrer «demokratischen, liberalen und progressiven Werte» zu kämpfen, und die andere, die für den Erhalt ihres Rechts kämpft, auf andere Weise zu existieren, und für die diese Werte nur ein Mantel der Heuchelei sind, der ein unbändiges Streben nach weltweiter Hegemonie verdecken soll.

Da stehen sich nun, grob gesagt, 37 Länder, die den Westen bilden, und 150 Länder, die zweifeln, zögern oder sich wehren, gegenüber. Letztere bringen dies mit ihrer Weigerung, Wirtschaftssanktionen gegen Russland zu verhängen, zum Ausdruck.

Neben diesen geopolitischen und zivilisatorischen Hindernissen gibt es noch einen weiteren Faktor, der den Frieden verhindert: die Halbzeitwahlen, die in diesem Herbst in den USA stattfinden. In Europa wird kaum darüber gesprochen. Zu Unrecht, denn sie wiegen sehr schwer.

Mit einem unbeliebten Präsidenten Biden, der als senil gilt, setzen die Demokraten auf eine Eskalation des Konflikts, um ihre Unterstützer zu mobilisieren und vor allem, um ihren republikanischen Gegnern entgegenzutreten. Das ist umso leichter, als die USA den Krieg stellvertretend führen können, das Leben ihrer Soldaten verschont bleibt, die Wirtschaftssanktionen nur ihre europäischen Verbündeten treffen und der Hass der Demokraten auf Russland seit der gescheiterten Wahl von Hillary Clinton 2016 nur darauf wartet, sich zu entladen.

Trotz des negativen Ergebnisses der Untersuchungen der beiden Sonderstaatsanwälte, die zur Untersuchung des Russiagate ernannt wurden, beharren sie auf ihrer Behauptung, Russland habe die Wahlen 2016 verfälscht.6 In Washington ist Frieden zumindest bis Ende November alles andere als erwünscht.

Rückblick auf die Butscha-Affäre

Das dritte Hindernis für den Frieden ist noch entscheidender, bleibt aber in Europa tabu: die Folgen der Butscha-Affäre. Für den Westen gibt es keine Zweifel: Es handelt sich um ein Massaker, ein Kriegsverbrechen, ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit, ja sogar einen Völkermord, der von russischen Soldaten begangen wurde.

Der Ablauf der Ereignisse wirft jedoch viele unbeantwortete Fragen auf: Warum sprach der Bürgermeister der Stadt in seiner ersten Rede am 30. März nicht von diesen Massakern? Warum wurden erst nach drei Tagen, an denen die Asow- und Safari-Milizen die Stadt «von Saboteuren und Komplizen der Russen säuberten», die ersten Fotos des Massakers veröffentlicht? Warum stammen die Satellitenbilder des Massakers ausschliesslich von einer amerikanischen Firma, die für das Pentagon arbeitet? Wie kommt es, dass alle zivilen Opfer in Butscha den russischen «Übergriffen» zugeschrieben wurden, obwohl die von den Russen besetzte Stadt vier Wochen lang von der ukrainischen Armee schwer bombardiert wurde? Die Fragen lassen sich beliebig fortsetzen, und nur die Zukunft wird zeigen, was wirklich geschehen ist.7

Unbestritten ist jedoch die mediale Zurschaustellung der Leichen, deren Fotos tagelang die westlichen Medien überfluteten und zu makabren Pilgerfahrten aller wichtigen Politiker und Journalisten des Westens führten. Diese Horden von Journalisten, die sorgfältig gefiltert, betreut und in Bussen zum «Tatort» gefahren wurden, um ihn zu filmen, sind nicht gerade inspirierend. Alles deutet auf eine Inszenierung hin. Zu oft wurde solches schon gezeigt und ich habe solche Vorgänge in Sarajevo und anderswo selber erlebt, um an eine unschuldige Spontaneität zu glauben.

Genauso muss man die vor den Mikrofonen gesammelten Zeugenaussagen mit Vorsicht zur Kenntnis nehmen, wenn man weiss, dass die Einwohner in Angst und Schrecken vor den Asow-Bataillonen und verschiedenen ukrainischen Todesschwadronen leben, die kürzlich Bürgermeister und Unterhändler liquidiert haben, die als zu nachgiebig gegenüber den Russen angesehen wurden, auf gefangene russische Soldaten mit Maschinengewehren schossen, einen russischen Soldaten mit einer Sichel enthaupteten usw. Alles Bilder, die man in sozialen Netzwerken finden kann, über die aber in unseren Zeitungen kaum berichtet wurde.8

Der Butscha-Effekt ist jedenfalls für den Frieden verheerend gewesen. Man übersieht leicht, dass die Medienberichterstattung über das Massaker nach einem Durchbruch bei den Verhandlungen in der Türkei stattfand, bei denen die Russen den Rückzug ihrer Truppen aus dem Norden der Ukraine angekündigt hatten. Resultat: Die Russen haben jegliches Vertrauen in die ukrainische Seite und in den Verhandlungsprozess verloren.

Sie und die Ostukrainer wissen nun, dass, wenn sie auch nur einen Zentimeter des von ihnen eroberten Terrains aufgeben, derselbe Medienrummel erneut stattfinden wird und alle Opfer als abscheuliche «Kriegsverbrechen» bezeichnet werden. Auch die Ost- und Südukrainer haben ihre Lektion gelernt: Sie werden von den Asow-Truppen gnadenlos massakriert, entführt oder vom SBU gefoltert, wenn die Russen sie im Stich lassen, so wie der chilenisch-amerikanische Blogger Gonzalo Lira in Charkow.9

Die ständig wiederholte Ausstrahlung dieser Bilder hat den Hass auf Russland zum Kochen gebracht und die Russophobie unter den Westukrainern wie auch in der westlichen Öffentlichkeit verschärft. Nun gibt es auf dem gesamten europäischen Kontinent westlich des Dnepr einen politischen und medialen Überbietungswettbewerb, in dem mehr Waffen, mehr Sanktionen und mehr Geld für die Ukraine gefordert werden und jeder ernsthafte Versuch eines Dialogs mit Russland abgelehnt wird, während die Befürworter des Friedens als Verräter oder Freunde des «Verbrechers» Putin dargestellt werden.

Klima in der Ukraine

Selbst für Zelensky sind Verhandlungen unmöglich geworden, da er von den extremen Nationalisten in seinem Lager sofort beschuldigt würde, mit dem «Kreml-Schlächter» zu paktieren. Sein politisches und sogar physisches Überleben steht auf dem Spiel.

Es ist im Übrigen auffällig, wie sehr sich das ukrainische Regime in den letzten Wochen radikalisiert hat, mit der Überwachung und Ausweisung nicht konformer Journalisten, vor allem aber mit der Auflösung und dem Verbot von Oppositionsparteien (Parteien des Linksblocks und als pro-russisch eingestufte Parteien), von denen der Führer der grössten, Viktor Medwedschuk, entführt, in Einzelhaft gehalten und zur Freilassung im Austausch gegen russische Gefangene vorgeschlagen wurde.10 Es sei daran erinnert, dass als «feindlich» eingestufte Fernsehsender und Medien bereits geschlossen wurden. Dieses Abgleiten in den Autoritarismus betrifft also auch die Ukraine.

Klima in Russland

Auf der russischen Seite ist das Klima nicht besser. Die Angriffe auf die russische Kultur, die Absage von Theateraufführungen, Universitätskursen und klassischen Musikkonzerten wurden als barbarische Akte betrachtet, die des Westens unwürdig sind. Auch das Zerstören von Statuen und Denkmälern der gefallenen russischen und sowjetischen Helden, wurde schlecht verkraftet, denn die Befreiung Europas vom Nationalsozialismus kostete in Russland das Leben von 26 Millionen Menschen.

Massive Waffenlieferungen, ständig neue Sanktionen, unbewiesene Anschuldigungen von Kriegsverbrechen, Gewaltakte ukrainischer Nationalisten auf russische Soldaten und Zivilisten im Donbass, das Verbot russischer Medien, die Schliessung und der Rückzug westlicher Unternehmen aus Russland, der Boykott von Aeroflot und das Einfrieren von 300 Milliarden russischen Vermögenswerten haben die Stimmung gegen den Westen weiter aufgeheizt.

Das Resultat davon ist, dass Putins Beliebtheitsgrad mit 83% Zustimmung so hoch ist wie nie zuvor. Es ist also nicht absehbar, dass die Russen ihren Präsidenten stürzen werden, wie es die Europäer gerne hätten und dass sie die «Befreiung» der Ukraine, die sie zunehmend für gerechtfertigt halten, beenden werden.

Ausserdem hat ein erheblicher Teil der russischen Bevölkerung nichts dagegen, dass die Vermögen der Oligarchen eingefroren werden und sie zu Hause bleiben müssen, was bedeutet, dass auch das Geld zu Hause bleibt …

Andere wiederum begrüssten die westlichen Sanktionen als ein unverhofftes Geschenk, da sie das Land dazu zwingen würden, sich wieder zu industrialisieren und in seine eigene Produktion zu investieren, anstatt alles zu importieren.

Klima im Westen

Es ist daher nicht ersichtlich, wie in einem derart hysterischen Klima der Frieden wiederhergestellt werden könnte. Man fragt sich sogar, ob der Westen, der nur noch die Sprache der Waffen zu sprechen scheint, nicht von einer Art Selbstmordwahn ergriffen ist. Unter diesen Umständen kann man bestenfalls auf einen Waffenstillstand und einen mehr oder weniger eingefrorenen Konflikt mit einer zweigeteilten Ukraine hoffen. Aber selbst davon sind wir noch weit entfernt!

In den kommenden Wochen und Monaten ist angesichts der laufenden Waffenlieferungen, der von der westlichen Koalition verkündeten Siegeshoffnungen, der Widerstandsfähigkeit der russischen Wirtschaft, die noch lange nicht zusammengebrochen ist, und der bestätigten Unterstützung durch China und Indien eher mit einer Eskalation der Kämpfe und der internationalen Spannungen zu rechnen ... und mit der Propaganda, die sie begleitet.

* Guy Mettan ist Politologe und Journalist. Seine journalistische Karriere begann er 1980 bei der Tribune de Genève und war von 1992 bis 1998 deren Direktor und Chefredaktor. Von 1997 bis 2020 war er Direktor des «Club Suisse de la Presse» in Genf. Heute arbeitet er als freischaffender Journalist und Buchautor.

(Übersetzung «Schweizer Standpunkt»)

1 Siehe CNN https://amp.cnn.com/cnn/2022/04/25/politics/blinken-austin-kyiv-ukraine-zelensky-meeting/index.html

2 Siehe Website des US-Verteidigungsministeriums https://www.state.gov/u-s-security-cooperation-withukraine/#:~:text=Since%202014%2C%20the%20United%20States,and%20improve%20interoperability%20with%20Nato

3 Siehe Radio Canada https://ici.radio-canada.ca/amp/1873461/canada-regiment-ukrainien-lie-extreme-droite-azov.

4 Siehe C News https://www.dailymotion.com/video/x8a23ub

5 Siehe https://radiolibre.ch/podcast/ukraine-une-guerre-totale-gabriel-galice-par-anti-these/

6 Siehe Wall Street Journal https://www.wsj.com/amp/articles/trump-russia-danchenko-steele-dossier-fbi-durham-11636152567

7 Siehe Consortium News https://consortiumnews.com/2022/04/04/questions-abound-about-bucha-massacre/

8 Siehe Consortium News https://consortiumnews.com/2022/04/20/zelenskys-hardline-internal-purge/

9 Siehe Libération https://www.liberation.fr/checknews/est-il-vrai-que-les-autorites-ukrainiennes-interdisent-aux-journalistes-la-diffusion-dimages-de-la-guerre20220330_62QUQA2Q4RBBTE2ISOYEWK7KXU/?outputType=amp.

10 Siehe Business Insider https://www.businessinsider.com/zelenskyy-offers-russia-trade-captured-putin-ally-medvedchuk-ukraine-prisoners-2022-4?amp

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