Einseitige Zwangsmassnahmen sind rechtswidrig und kontraproduktiv

Alfred de Zayas (Bild zvg)

Sie destabilisieren die Staaten und zwingen sie, sich zurückzuziehen, anstatt sich zu öffnen

von Alfred de Zayas*

(3. Oktober 2021) Red. Diese Analyse wurde vom Autor am 22. September bei einem Expertentreffen am Rande der 48. Session des Menschenrechtsrats der UNO in Genf vorgetragen. Unter den Experten befand sich die UNO-Sonderberichterstatterin über einseitige Zwangsmassnahmen Prof. Dr. Alena Douhan. Die Session des Rates dauert vom 13. September bis 8. Oktober 2021.

Die Theorie und Praxis «Einseitiger Zwangsmassnahmen» (EZM) ist geprägt von Fake News, Fake Law, False-Flag-Operationen und Doppelstandards. Was die Rechtsgrundlage für die «Verhängung von Sanktionen» angeht, so können nur die vom Sicherheitsrat gemäss Artikel 41 der UNO-Charta verhängten Sanktionen als rechtmässig bezeichnet werden.

Darüber hinaus fordern zahlreiche UNO-Studien – darunter der Bericht der Unterkommission für die Förderung und den Schutz der Menschenrechte aus dem Jahr 2000 und der thematische Bericht von 2012 der Hohen Kommissarin Navi Pillay1 – die Aufhebung der EZM wegen ihrer negativen Auswirkungen auf die Menschenrechte.

Die 29 Resolutionen der UNO-Generalversammlung zum US-Embargo gegen Kuba machen deutlich, dass solche Sanktionen gegen zentrale Grundsätze der UNO-Charta und andere Prinzipien verstossen, darunter «die souveräne Gleichheit der Staaten, die Nichtintervention und Nichteinmischung in ihre inneren Angelegenheiten und die Freiheit des internationalen Handels und der Schifffahrt».2

Die Generalversammlung hat die EZM wiederholt als völkerrechtswidrig und unvereinbar mit dem Recht auf Entwicklung verurteilt, ich zitiere: «Solche Massnahmen stellen eine flagrante Verletzung der in der Charta niedergelegten Grundsätze des Völkerrechts sowie der Grundprinzipien des multilateralen Handelssystems dar».3

Auch der Menschenrechtsrat hat die EZM verurteilt, zuletzt in der Resolution 46/5 vom 23. März 2021, in der unter anderem betont wird, dass «Menschen unter keinen Umständen ihrer grundlegenden Überlebensmittel beraubt werden dürfen», und in der «grosse Besorgnis» darüber geäussert wird, «dass die Gesetze, Verordnungen und Beschlüsse, mit denen einseitige Massnahmen auferlegt werden, eine extraterritoriale Wirkung nicht nur auf die Zielländer, sondern auch auf Drittländer haben, was einen Verstoss gegen die Grundprinzipien des Völkerrechts darstellt».4

Ungeachtet ihrer Rechtswidrigkeit werden die EZM von mächtigen Staaten weiterhin völlig ungestraft verhängt. Es ist an der Zeit, den Internationalen Gerichtshof anzurufen, um ein Gutachten einzuholen, das die Unvereinbarkeit der EZM mit der UNO-Charta erklärt und die Verantwortung der Staaten für die Entschädigung der Opfer festlegt. Da durch die EZM Zehntausende von Menschen in mehreren Ländern sterben, muss die Angelegenheit vom Internationalen Strafgerichtshof unter der Rubrik «Verbrechen gegen die Menschlichkeit» untersucht werden. (Art. 7 des Statuts von Rom)

Die gleichen rechtlichen Bedenken gelten für die Konzepte der «humanitären Intervention» und der so genannten «Doktrin» der «Schutzverantwortung» (engl. R2P=Responsability to Protect), die von beweislosen Anschuldigungen, Übertreibungen und intellektueller Unredlichkeit begleitet werden. Wir erleben dies jeden Tag in den Erklärungen einiger Regierungen im Sicherheitsrat, in der Generalversammlung und im Menschenrechtsrat sowie in der von den Medien verbreiteten Propaganda.

Der Zweck von EZM und R2P ist derselbe – die Destabilisierung des Ziellandes durch Ersticken seiner Wirtschaft, die Schaffung von Chaos und Elend, um einen «Regimewechsel» und die Einsetzung einer illegitimen Marionettenregierung herbeizuführen. Man könnte dies als Aufzwingen einer Scheindemokratie durch die Korrumpierung von Werten wie der Menschenwürde und den Menschenrechten bezeichnen. Wir können dies mit Fug und Recht als ungeheuerlichen politischen Betrug bezeichnen.

Während man argumentieren kann, dass Embargos für die Ein- und Ausfuhr von Waffen legitim und oft notwendig sind, weil sie darauf abzielen, Konflikte zu deeskalieren und Friedensverhandlungen eine Chance zu geben, verstossen die EZM, die auf einen «Regimewechsel» abzielen, gegen die Souveränität der Staaten, das Selbstbestimmungsrecht und das Recht auf Entwicklung. Darüber hinaus stellen EZM eine Bedrohung für den Frieden und die Stabilität in der Welt im Sinne von Artikel 39 der UNO-Charta dar.

Die Erfahrung zeigt, dass Wirtschaftssanktionen die Menschenrechte ganzer Bevölkerungen beeinträchtigen und eine Form der «kollektiven Bestrafung» darstellen. Sanktionsregime, die die Wirtschaft der betroffenen Länder zum Erliegen bringen, führen zu Arbeitslosigkeit, Hunger, Krankheit, Verzweiflung, Auswanderung und Selbstmord. In dem Masse, wie solche Sanktionen «wahllos» sind, kommen sie einer Form von «Terrorismus» gleich, der per definitionem wahlloses Töten mit sich bringt, ebenso wie Landminen, Streubomben und der Einsatz von Waffen mit krebserregendem abgereichertem Uran.

Nach der von ihren Befürwortern vertretenen Theorie sollen EZM die angegriffenen Länder zu einer Änderung ihrer Politik «bewegen». Wie die Experten gerne vorhersagen, sollen die Sanktionen zu einer massiven öffentlichen Unzufriedenheit führen, so dass sich die Bevölkerung aus Wut gegen ihre Regierungen erhebt oder einen Staatsstreich auslöst. Obwohl der Zweck der Sanktionen gerade darin besteht, Chaos, einen nationalen Notstand, eine instabile Situation mit unvorhersehbaren Folgen herbeizuführen, beruft sich das politische Narrativ, mit dem die Sanktionen zu rechtfertigen versucht werden, völlig unpassend auf Menschenrechte und humanitäre Grundsätze als ihren wahren Zweck.

Es stellt sich die Frage, ob die EZM den Menschenrechten dienen können? Gibt es empirische Belege dafür, dass Länder, gegen die Sanktionen verhängt wurden, ihre Menschenrechtsbilanz verbessert haben? Die Erfahrung zeigt, dass ein Land, das sich im Krieg befindet – gleich welcher Art Krieg –, in der Regel von den bürgerlichen und politischen Rechten abweicht. Wenn ein Land unter einem nichtkonventionellen, hybriden Krieg leidet und mit Wirtschaftssanktionen und Finanzblockaden belegt wird, führt dies nicht zu einer Verbesserung der Menschenrechtslage, sondern genau zum Gegenteil. Wenn Sanktionen wirtschaftliche und soziale Krisen auslösen, verhängen Regierungen routinemässig ausserordentliche Massnahmen und rechtfertigen diese mit dem «nationalen Notstand». Wie in klassischen Kriegssituationen schliesst ein Land im Belagerungszustand die Reihen und versucht, durch die vorübergehende Einschränkung bestimmter bürgerlicher und politischer Rechte die Stabilität wiederherzustellen.

Artikel 4 des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte sieht die Möglichkeit vor, dass Regierungen bestimmte vorübergehende Einschränkungen vornehmen können, z.B. die Abweichung von Art. 9 (Inhaftierung), Art. 14 (faire Gerichtsverfahren), Art. 19 (Recht auf freie Meinungsäusserung), Art. 21 (Freiheit der friedlichen Versammlung), Art. 25 (periodische Wahlen).

NIEMAND will solche Ausnahmen, aber die Priorität eines jeden Staates ist das Überleben, die Verteidigung seiner Souveränität und Identität. Das Völkerrecht erkennt an, dass Regierungen einen gewissen Ermessensspielraum haben, wenn es darum geht, den Grad der Bedrohung für das Überleben des Staates durch Sanktionen, paramilitärische Aktivitäten oder Sabotage zu bestimmen.

Anstatt die Verbesserung der Menschenrechtslage zu fördern, führen Wirtschaftssanktionen daher häufig zu innerstaatlichen Notstandsgesetzen, die auf die Wahrung lebenswichtiger Interessen abzielen. In solchen Fällen erweisen sich Sanktionen als kontraproduktiv, wie ein Vorschlag mit zwei Verlierern. In ähnlicher Weise hat sich die überstrapazierte Praxis des «naming and shaming» als unwirksam erwiesen. Was sich in der Vergangenheit bewährt hat, sind stille Diplomatie, Dialog und Kompromisse.

Wenn die internationale Gemeinschaft einem Land helfen will, seine Menschenrechtssituation zu verbessern, sollte sie sich bemühen, alle Drohungen, die die Regierung in den Rückzug anstatt in die Öffnung treibt, zu eliminieren. Inzwischen sollte klar sein, dass Säbelrasseln, Sanktionen und Blockaden keineswegs zu einem positiven Wandel beitragen. Gerade weil sie die Situation verschärfen und das ordnungsgemässe Funktionieren der staatlichen Institutionen stören, schwächen sie die Rechtsstaatlichkeit und führen zu Rückschritten bei den Menschenrechten.

Angesichts der anhaltenden Drohungen gewisser Politiker gegenüber Länder, die Sanktionen unterworfen sind, scheint ein altes französisches Sprichwort zuzutreffen:

Cet animal est très méchant: lorsqu'on l'attaque, il se défend.
(Dieses Tier ist sehr bösartig: wenn man es angreift, verteidigt es sich.)

Unterm Strich sind «einseitige Zwangsmassnahmen» völkerrechtswidrig, unvereinbar mit der UNO-Charta, und der Versuch, sie unter Berufung auf die Menschenrechte oder die Pseudo-Doktrin der «Schutzverantwortung» zu «legitimieren», ist ein schändlicher kriegerischer Missbrauch von Werten. Der Menschenrechtsrat darf sich nicht auf derartige Betrügereien einlassen.

(Übersetzung «Schweizer Standpunkt»)

* Professor Dr. iur. et phil. Alfred de Zayas ist Historiker, Jurist und Schriftsteller. Er ist schweizerisch-amerikanischer Doppelbürger und lehrt an der Genfer Schule für Diplomatie. Von 2012–2018 war er im Auftrag des UN-Menschrechtsrates «Unabhängiger Experte für die Förderung einer demokratischen und gerechten Weltordnung».

1 A/HRC/19/33

2 https://www.refworld.org/publisher,UNGA,RESOLUTION,,3b00f21147,0.html

3 https://www.refworld.org/publisher,UNGA,RESOLUTION,,47c6b1dd2,0.html

4 https://undocs.org/A/HRC/RES/46/5

Zurück