Schweiz–EU
Bundesrat verheimlicht Macht des EU-Gerichts
Kommt Rahmen-Deal, hat Brüssel das letzte Wort – doch Bern spült den heiklen Fakt in Vernehmlassung weich. Volk hintergehen?
von Carl Baudenbacher*
(21. November 2025) Am 20. Dezember 2024 genehmigte der Schweizer Bundesrat ein Paket von Abkommen mit der Europäischen Union (EU), ohne deren Inhalt vollständig zu kennen. Die institutionellen Merkmale waren jedoch klar.
(Foto https://
baudenbacher-law.com)
Die Verträge sehen die dynamische Übernahme des EU-Rechts durch die Schweiz, eine faktische Überwachung der Schweiz durch die Europäische Kommission und die Beilegung von Streitigkeiten durch ein Pro-Forma-Schiedsgericht unter der Aufsicht des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH) vor.
Im Gegenzug würde sich die Schweiz den präferentiellen Marktzugang für ihre Industrie sichern, jedoch nicht für ihre Dienstleister.
Rechtsprechung die Schweizer Bevölkerung entmündigen. Gebäude
des Europäischen Gerichtshofes (EuGH) in Luxemburg. (Bild Die
europäische Union)
Am 13. Juni 2025 wurden die Verträge nach Wochen peinlicher Geheimnistuerei der Öffentlichkeit zusammen mit einem 931 Seiten langen «Erläuternden Bericht» vorgestellt. Im Sommer 2010 – ich war damals Präsident des EFTA-Gerichtshofs – hatte ich die Ehre, vom Bundesrat in corpore zum Projekt eines Rahmenabkommens angehört zu werden.
In meiner Vernehmlassung vom 22. September 2025 habe ich mich zu zwei Themenkreisen kritisch geäussert: Zum institutionellen Setting einerseits und zur Kommunikation Bundesberns andererseits.
Was die institutionellen Vorschriften angeht, so halte ich den Ansatz mit der Europäischen Kommission als faktischer einseitiger Überwacherin der Schweiz und dem Gerichtshof der Europäischen Union («EuGH») als Alleinausleger von EU-Recht und inhaltsgleichem Abkommensrecht für grundsätzlich verfehlt.
Die beiden mächtigen Instanzen sind gemäss Artikel 13 EUV verpflichtet, den Wertungen der EU Geltung zu verschaffen, ihre Ziele zu verfolgen, ihren Interessen, denen ihrer Bürgerinnen und Bürger und denen der Mitgliedstaaten zu dienen sowie die Kohärenz, Effizienz und Kontinuität ihrer Politik und ihrer Massnahmen sicherzustellen.
Mit anderen Worten fehlt beiden Organen die Parteineutralität.
Ich habe darauf hingewiesen, dass die Rolle, welche die Kommission spielen würde, in der Schweiz überhaupt nicht diskutiert wird. Das ist eine direkte Folge einer unrichtigen Behauptung des Bundes, die seit 2013 erhoben wird und sich auch im «Erläuternden Bericht» findet:
Es wird gesagt, die Verträge würden auf einem «Zwei-Pfeiler»-Modell fussen mit einem EU-Pfeiler und einem Schweiz-Pfeiler. Beide Pfeiler würden sich selbst und gleichzeitig den jeweils anderen Pfeiler überwachen.
Tatsächlich gäbe es jedoch nur einen Pfeiler, den der EU. Denn ein Streitbeilegungsverfahren würde stets beim EuGH landen, egal wer es beginnt. Ein Zwei-Pfeiler-System besteht im EWR, in dem die beteiligten EFTA-Staaten ihre eigene Überwachungsbehörde und ihren eigenen Gerichtshof haben.
Einer der besten Kenner der Materie, der ehemalige Beigeordnete Generalsekretär der EFTA Georges Baur, hat zu Recht festgestellt, dass im Verhältnis EU-Schweiz von einer Zwei-Pfeiler-Struktur keine Rede sein kann.
Der Bund muss seine verfehlte Kommunikation in dieser wichtigen Frage ändern und insbesondere die zunehmende Politisierung der Europäischen Kommission analysieren, die auf Kosten der Rechtssicherheit und Rechtsstaatlichkeit geht.
Letzteres bedarf besonderer Aufmerksamkeit, weil der EuGH der Kommission in vielen Fällen Recht gibt.
Der zweite Themenbereich, auf den ich mich in meiner Vernehmlassung konzentriert habe, ist das Verfahren der Streitbeilegung. Der Erläuternde Bericht versucht den Stimmberechtigten weiszumachen, dass das «Schiedsgericht» entscheidende Kompetenzen habe.
So wird gesagt, das «Schiedsgericht» entscheide selbständig, ob es den EuGH anrufe beziehungsweise «beiziehe», dieser könne im Verfahren vor dem «Schiedsgericht» nicht intervenieren und der Schlussentscheid liege allein beim «Schiedsgericht».
Das alles ist tendenziös und irreführend. Die Vorstellung, dass das – nach dem US-Supreme Court – zweitmächtigste Gericht der Welt gleichsam als Hilfsorgan eines ad-hoc-Schiedsgerichts agieren könnte, ist geradezu skurril.
Tatsächlich enthalten die Verträge sehr konkrete Bestimmungen betreffend die Anrufungs- und Befolgungspflicht des «Schiedsgerichts».
Mir ist kein unabhängiger ausländischer Experte bekannt, der die Behauptung von der Selbständigkeit des Schiedsgerichtes teilt. Hingegen kenne ich zahllose Fachleute aus der EU und aus anderen EFTA-Staaten, unter ihnen viele Praktiker, welche das Schiedsgericht als das sehen, was es ist: als Mittel zur Tarnung des EuGH.
Ausländische Kommentatoren haben folgende Charakterisierungen vorgenommen: «Schiedsgericht» als «Feigenblatt»; «Schiedsgericht» als «Briefkasten» und «Stempelkissen»; «Schiedsgericht» als «Trojanisches Pferd mit dem EuGH im Bauch». «Verschleierung der Unterwerfung unter den EuGH»; «judizieller Imperialismus»; «extraterritoriale Ausweitung der Zuständigkeit des EuGH»; «EWR des armen Mannes».
Dass der EuGH tatenlos zuschauen müsste, was das «Schiedsgericht» treibt, ist unrichtig. Er hat bereits im Zusammenhang mit dem Freihandelsabkommen von 1972 («Polydor») und dem EWR-Abkommen von 1992 («Rimbaud») Urteile erlassen, mit denen er auf eine seines Erachtens unbefriedigende Rechtslage in Drittstaaten reagiert hat.
An Gelegenheiten, auf Fehlentwicklungen im Verhältnis Schweiz – EU zu reagieren, würde es dem EuGH nicht mangeln.
Der Bund hat sodann im Erläuternden Bericht das Prinzip der Autonomie des EU-Rechts (die «Gretchenfrage» des EU-Rechts) und das Verbot für Schiedsgerichte, mit EU-Recht inhaltsgleiches Abkommensrecht auszulegen, verschwiegen.
Er hat Grafiken ins Netz gestellt, auf den die Institutionen Kommission und EuGH wegretouchiert sind. Auch die Herkunft des Streitbeilegungsmechanismus aus den Verträgen der EU mit den post-sowjetischen Entwicklungs- und Schwellenländern Armenien, Georgien, Moldawien und Ukraine wurde unterdrückt.
Das vorgeschlagene Streitbeilegungsmodell mit der Europäischen Kommission als faktische Überwacherin der Schweiz und dem Gerichtshof der Europäischen Union als einzigem Ausleger von EU-Recht und inhaltsgleichem Abkommensrecht ist stark zugunsten der EU ausgestaltet und unterscheidet sich grundlegend von der Situation der EWR/EFTA-Staaten.
In Island und Norwegen wäre der gewählte Streitbeilegungsmechanismus, der Kommission und EuGH alle Macht gäbe, verfassungswidrig.
Man kann das als ersten Schritt in Richtung EU-Beitritt wollen, aber der Bund muss wahrheitsgemäss, objektiv und sachlich informieren, damit eine unverfälschte Willensbildung von Volk und Ständen möglich ist.
Unrichtige oder halbwahre Aussagen über die Rolle von Kommission, Schiedsgericht und EuGH, das Weglassen notwendiger Information und selektives Zitieren von Literatur und Rechtsprechung sind mit Artikel 34 der Bundesverfassung nicht vereinbar.
Im Blick auf die enormen personellen Ressourcen des Bundes und die Tatsache, dass der Bundesrat das post-sowjetische Modell bereits im März 2018 akzeptiert hat, kann man nicht von einem Unvermögen der Verwaltung ausgehen. Vielmehr scheint das vorzuliegen, was im angelsächsischen Sprachraum als «biased writing» bezeichnet wird.
Ich habe schliesslich beim Verfassen meiner Stellungnahme festgestellt, dass der Bund sich bemüssigt fühlt, die Vernehmlassung mittels gelenkter Fragen durchzuführen. Dabei wird Nebensächliches in grosser Detailliertheit thematisiert, zum Herzstück des Vertragspakets, den institutionellen Neuerungen, finden sich aber keine spezifischen Erkundigungen.
Wenn man sich das alles vor Augen hält, so drängt sich die Frage auf, ob es Bundesbern mit den neuen Verträgen ernst ist. Oder ob der Bundesrat, der seit 2013 ohne grosse Begeisterung in die Sache hineingeschlittert ist, das Dossier nur aus Rücksicht auf Brüssel vorantreibt.
Die französische Botschafterin Marion Paradas hat vor bald einem Jahr eine Vermutung in dieser Richtung geäussert. Die bauernschlauen Schweizer könnten der EU am Ende sagen: «Wir haben es versucht, aber leider sind uns Volk und Stände nicht gefolgt.»
| * Carl Baudenbacher iist Partner der schweizerisch-norwegischen Kanzlei Baudenbacher Law AG und Mitglied von Monckton Chambers in London. Seit 2020 ist er Visiting Professor an der London School of Economics (LSE). Von 1995 bis April 2018 war Baudenbacher Richter am EFTA-Gerichtshof in Luxemburg, von 2003 bis 2017 dessen Präsident. Von 1987 bis 2013 war er ordentlicher Professor an der Hochschule St. Gallen (HSG) und zwischen 1993 und 2004 Permanent Visiting Professor an der University of Texas (UT) in Austin. |
Quelle: https://insideparadeplatz.ch/2025/09/28/bundesrat-verheimlicht-macht-des-eu-gerichts/, 28. September 2025.