Schweiz

Das «perfide Albion» nimmt seine Kastanien aus dem Feuer und versucht Wilhelm Tell dem europäischen Moloch zu opfern

Rémy Delalande. (Bild zvg)

von Rémy Delalande,* Schweiz

(19. April 2023) Die «britisch-schweizerische Handelskammer» organisierte am 20. März 2023 in Bern eine schlichtweg absurde Debatte mit dem EU-Botschafter in der Schweiz, Petros Mavromichalis, mit dem Ziel die Schweiz dazu zu bringen, sich den Richtern des «Europäischen Gerichtshofs» (EuGH) zu unterwerfen und endlich ihr Zaudern über die Vorrangstellung des europäischen Rechts zu überwinden.

Dabei hatte alles so gut angefangen. Die britische Handelskammer hatte sich bereit erklärt, den EU-Botschafter in der Schweiz in die Räumlichkeiten von PricewaterhouseCoopers (PwC) in Bern einzuladen, und man durfte eine aus britischer Sicht interessante Dreiecksdebatte über diese seltsame Ehe zu dritt erwarten, da Grossbritannien und die Schweiz durch eine gemeinsame Ablehnung der institutionellen Dominanz der Europäischen Union und durch einen gemeinsamen protestantischen Merkantilismus verbunden scheinen, der das Gegenteil einer in vielerlei Hinsicht antidemokratischen und zentralistischen Europäischen Union ist.

Aufgrund des Brexit-Votums vor einigen Jahren glaubte die Schweiz, einen starken Verbündeten gefunden zu haben, der sich dem Regulierungsdiktat der EU widersetzen und einmal mehr seine Unabhängigkeit geltend machen würde.

Aufmerksame Beobachter stellen jedoch fest, dass sich die Schweiz durch aufeinanderfolgende Abkommen schleichend immer weiter den EU-Institutionen angenähert hat, während sich Grossbritannien für eine Abkehr von der EU entschied. In Anspielung auf eine Reihe von Stufen in Richtung Europäische Union befindet sich die Schweiz nun am oberen Ende der europäischen Integrationstreppe, während sich Grossbritannien eher am unteren Ende befindet.

Man hätte erwarten können, dass die Debatte über die Perspektiven der europäischen Beziehungen einen Vergleich zwischen den beiden stolzen und mutigen unabhängigen Systeme der Schweiz und Grossbritanniens ermöglicht und auch eine positive Bilanz der britisch-schweizerischen Beziehungen nach dem Brexit zieht. Aber nein!

Anstelle der erwarteten Debatte erfüllte die Veranstaltung diese legitimen Erwartungen nicht im Geringsten, sondern es wurde im Gegenteil eine regelrechte Einseifung des helvetischen Bretts durch die Briten inszeniert. Denn weit davon entfernt, zwei Bruderländer zu sein, die durch einen starken Unabhängigkeitswillen verbunden sind, sind sie vor allem Konkurrenten im Finanzbereich und im Handel mit Rohstoffen.

Die Veranstaltung wurde daher seltsamerweise zu einer Art pathetischer Messe, bei der schweizerische und britische Fans die Worte eines überheblichen und selbstherrlichen EU-Botschafters lobten, der so tat, als verstünde er den Widerstand der Schweiz gegen den Beitritt zu einem rechtsverbindlichen Rahmenabkommen nicht, welches das schweizerische Recht automatisch dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) unterwerfen würde.

In Bezug auf gemeinsame Werte erklärte der EU-Botschafter, dass die Schweiz keinen Zugang zum europäischen Markt (obwohl sie ein ausgezeichneter Kunde und Lieferant ist) erhalten könne, ohne auch die Kröte der politischen Union mit der EU zu schlucken.

Während ein im Publikum versteckter Vertreter der britischen Botschaft nicht einmal gebeten wurde, in der Podiumsdiskussion über die Vorteile des Brexit zu äussern, beschrieb der EU-Botschafter kaltschnäuzig die Doppelstandards der EU gegenüber Drittländern. So wäre Grossbritannien, das etwa 30 Kilometer vom europäischen Kontinent entfernt und von Meeren umgeben ist, – im Gegensatz zur Schweiz – nicht gezwungen, die politisch-wirtschaftliche Agenda der EU vollständig zu übernehmen. Es ist daher verständlich, dass das Vereinigte Königreich, das seinen Handlungsspielraum beim bevorstehenden Abschluss eines europäischen Freihandelsabkommens wahren will, keine Sekunde zögert, die Schweiz unter Druck zu setzen, um Brüssel zu gefallen und seine Erfolgschancen zu sichern.

Das Publikum selbst war voll und ganz auf die europäische Integration eingeschworen. Jeder bejammerte den fehlenden Mut der Schweizer Regierung, sich dem europäischen Regelwerk zu unterwerfen, und wünschte sich sogar, dass das Schweizer Volk noch einmal abstimmen würde, um der Regierung endlich die Chance zu geben, ihre Meinung zu ändern und ihren erschreckenden und rückwärtsgewandten Konservatismus aufzugeben.

Die Krönung der Unterwürfigkeit teilte sich der grüne Berner Stadtpräsident, für den ausländische Richter unendlich viel respektabler und wünschenswerter sind als Schweizer Richter mit verdächtigen Verbindungen, aber auch ein ehemaliger Staatssekretär des SECO [Staatssekretariat für Wirtschaft], der dem europäischen Botschafter direkt empfahl, zum Lavieren des Bundesrates «Nein» zu sagen.

In ihren Augen sollten mehr Kommunikationsmittel eingesetzt werden, um die lokalen Widerstände gegen eine institutionelle Annäherung an die EU zu überwinden, obwohl die Schweiz dank eines starken Schweizer Frankens eine privilegierte wirtschaftliche Situation mit einer niedrigeren Inflation als in anderen europäischen Ländern geniesst.

Es ist auch verständlich, dass die Gefahr einer Volksabstimmung den Bundesrat so sehr erschreckt, dass er letztes Jahr zur Überraschung des EU-Botschafters auf das institutionelle Rahmenabkommen verzichtet hat.

Er verwies auf Österreich und Norwegen, die trotz ihres EU-Beitritts kein Verständnis für das seltsame Zögern der Schweiz hätten, voranzugehen. Ein Zeichen dafür, dass sich der Bundesrat auf dünnem Eis bewegt, war die Einladung des EU-Vizepräsidenten durch die Universität Freiburg im Dezember letzten Jahres, die in Bern auf wenig Gegenliebe stiess, da man befürchtete, dass ausserhalb eines vorsichtig abgesteckten Narrativs das Land ins Schleudern geraten könnte.

Doch trotz einem gutmütigen äusseren Eindruck war der Botschafter unerbittlich. Die Schweiz müsse sich dem europäischen Recht unterwerfen. Ohne eine klare Unterwerfung der Schweiz unter den EuGH werde es weder Neuerungen in den bestehenden Abkommen noch zukünftige Entwicklungen geben, zum Beispiel im Bereich des Strommarktes (wo man in Europa das katastrophale Ergebnis der deutschen Dominanz bei den erneuerbaren Energien und der Bindung des Strompreises an den Gaspreis beobachten kann), in der öffentlichen Gesundheit der Lebensmittelsicherheit (kein Witz!) und der Medizintechnik. Die Schweiz ist gewarnt und wird sich nicht auf das «perfide Albion»1 verlassen können, das sie bereits verrät. Die achte Runde der Schweizer Verhandlungen fand in Brüssel statt und soll nächstes Jahr abgeschlossen werden.

Und schliesslich, um mit der gestern im Publikum vorherrschenden Stimmung der Seligkeit und der europäischen Schicksalsgemeinschaft, zu schliessen, erfreute der Botschafter alle Anwesenden mit seiner Aussage, dass Putin Europa einen grossen Dienst erwiesen habe, da nun Europa sich um die gemeinsame Werte herum vereint habe, und die USA der wichtigste Partner auf politischer und wirtschaftlicher Ebene sei.

Bis 2030 werde sich die EU seiner Prognose zufolge «in der Breite und in der Tiefe» weiter ausgedehnt haben. Die absehbaren Uneinigkeiten zwischen den neuen Mitgliedsländern sollen zu einer «demokratischen» Reform führen, bei der die obligatorische Einstimmigkeit bei Entscheidungen durch eine einfache Mehrheit ersetzt werden soll. Nicht unbedingt was wir Schweizerinnen und Schweizer uns erträumen…

* Rémy Delalande arbeitet seit 20 Jahren als Politologe, zunächst als Journalist in Genf für eine Handelszeitschrift und später für den Dienst für auswärtige Angelegenheiten in Bern, wo er ein breites Spektrum internationaler und nationaler Regulierungsfragen bearbeitet hat. Rémy Delalande wirkte ausserdem Während 10 Jahren als gewählter Politiker in einem lokalen Parlament am Genfer See. In dieser Rolle konzentriert er sich auf Fragen der lokalen öffentlichen Politik und organisiert Expertenkonferenzen für Fachleute aus dem Bankensektor sowie für ausländische Delegationen zu öffentlichen Angelegenheiten und Regulierungen. (eventspro.ch).

(Übersetzung «Schweizer Standpunkt»)

1 «Albion» ist ein antiker Name für Grossbritannien. Im 18. Jahrhundert fügten die Franzosen das Adjektiv «perfide» hinzu. Nicht ganz ohne Grund, kaperten die Briten doch zu Beginn des Siebenjährigen Krieges ohne Kriegserklärung 300 französische Handelsschiffe.

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