Den Geist des Dialogs aufrecht erhalten

Guy Mettan (Bild zvg)

Zum Putin-Biden-Gipfel in Genf

von Guy Mettan, unabhängiger Journalist, Genf

(14. Juni 2021) Vor rund 36 Jahren, am 19. November 1985, trafen sich Ronald Reagan und Michail Gorbatschow in Genf zu einer Gipfelkonferenz, die im Kalten Krieg Geschichte schrieb. Ich erinnere mich daran als ob es gestern gewesen wäre: Es war an meinem 29. Geburtstag, und ich habe meinen damaligen Ausweis als akkreditierter Journalist bis heute aufbewahrt.

Aber es war nicht die erste Gipfelkonferenz dieser Art in Genf. Dreissig Jahre zuvor, 1955, trafen sich die «Big Four» [USA, GB, F, UdSSR] – Eisenhower, Anthony Eden, Edgar Faure auf der einen Seite, Bulganin, Chruschtschow, Molotow und Schukow auf der anderen – im Parc de l’Ariana [neben dem UNO-Hauptsitz], um über Frieden und Sicherheit zu sprechen, nachdem die ersten sowjetischen Atombombentests erfolgreich verlaufen waren. Das Treffen damals erregte grosses Aufsehen. Ich war noch nicht geboren, aber der Schatten dieses Gipfels hing später während der ganzen 22 Jahre über mir, die ich im Schweizer Presseklub im gleichen Raum verbrachte, der damals Bulganin als Schlafzimmer gedient hatte.

Beide Treffen fanden in Genf statt, was vor allem den Russen zu verdanken war, die die neutrale Schweiz als Ort für internationale Verhandlungen seit jeher New York oder einem anderen NATO-Mitgliedsstaat vorzogen. Das Gleiche gilt nun für den Putin-Biden-Gipfel. Daran sollten wir denken, wenn wir Russland für alles Mögliche und Unmögliche Vorwürfe machen.

Das internationale Genf ist also die Frucht einer langen Geschichte, die seine Mauern und Gebäude durchdringt und die weiterhin die Entscheidungen der Gegenwart beeinflusst. Deshalb ist es wichtig, diesen Geist des Dialogs am Leben zu erhalten und einen Multilateralismus zu pflegen, der real ist und nicht nur eine Fassade darstellt. Wir können uns nicht darauf beschränken, ein paar Tage Gastgeber eines Gipfels zu sein, um uns dann wieder unterwürfig der zur Zeit dominierenden Macht zu beugen.

Multilateralismus ist eine aktive Geisteshaltung

Multilateralismus ist in erster Linie eine aktive Geisteshaltung. Diese besteht aus Einfühlungsvermögen und einem Verständnis, das jederzeit gegenüber allen – und besonders gegenüber den vermeintlich Bösen und Schwachen in der internationalen Rangordnung – aufrechterhalten und entwickelt werden muss: gegenüber den Russen und den Chinesen natürlich, aber auch gegenüber den Nordkoreanern, den Iranern, den Syrern, den Venezolanern, den Kubanern, den Afrikanern und all denen, die der Westen verurteilt.

Dies ist bei weitem nicht der Fall. Wenn unsere Schweizer Luftwaffe zusammen mit der NATO in Norwegen und Portugal trainiert, wenn unsere Nachrichtendienste ungeniert die Berichte ihrer britischen und amerikanischen Kollegen übernehmen: Sind wir dann sicher, dass wir die Neutralität und den Multilateralismus respektieren, die unsere Erfolge bis zum heutigen Tag gesichert haben? Wenn unsere Presse Weissrussland dafür verurteilt, dass es ein Flugzeug umgeleitet hat, um einen Dissidenten festzunehmen, ohne daran zu erinnern, dass diesem Akt der qualifizierten Luftpiraterie ähnliche Verbrechen vorausgingen, die schon Jahre zuvor von den USA und europäischen Ländern begangen wurden (wie zum Beispiel Frankreich 1956 mit der Entführung des Flugzeugs von Ben Bella, gefolgt von dessen Ermordung), ohne die geringste Kritik hervorzurufen: Können wir dann sicher sein, alles richtig zu machen und den «Geist von Genf» zu verkörpern?

Ich erwähne diesen Vorfall, weil er aktuell ist und unsere Heucheleien und unsere Doppelmoral in der internationalen Politik sowie unsere Unfähigkeit, uns einen echten Multilateralismus vorzustellen, aufzeigt. Seit rund zehn Jahren, seit der Kapitulation der Schweiz vor dem amerikanischen Druck auf das Bankgeheimnis, neigen wir als Land dazu, den Westmächten, besonders den USA und der EU, unsere Treue zu schwören, ohne aber zu verstehen, dass erstens die Welt wirklich multipolar geworden ist, und zweitens, dass ein Land, das eine Politik der guten Dienste betreiben will, dies berücksichtigen sollte.

Zweierlei Mass

Warum gab es Empörung über Lukaschenkos Verhalten (zu Recht, wie ich anmerken möchte), aber keinen Protest, als Frankreich, Spanien und Grossbritannien 2013 auf Druck der USA das Präsidentenflugzeug von Boliviens Präsident Evo Morales zur Landung in Wien gezwungen hatten, weil sie glaubten, Edward Snowden sei an Bord? Dies war ein Akt der Piraterie, der sich nicht nur gegen ein ziviles Flugzeug richtete, sondern sogar gegen ein offizielles Flugzeug, das nach internationalem Recht als so unantastbar gilt wie eine Botschaft. Warum gab es keine Empörung, als 2016 ein weissrussisches Flugzeug von der Ukraine umgeleitet und zur Landung in Kiew gezwungen wurde, weil man einen Anti-Maidan-Dissidenten festnehmen wollte?

Warum wurde nicht protestiert, als 2012 ein syrisches Passagierflugzeug über Ankara entführt wurde? Und schliesslich: Warum wird weiterhin über die Tatsache geschwiegen, dass Alex Saab – ein venezolanischer Diplomat, der in einem Verkehrsflugzeug reiste – 2020 auf den Kapverden unter dem falschen Vorwand der Geldwäsche verhaftet wurde, obwohl die Schweiz am 25. März 2021 bestätigt hat, dass sie zum Vorwurf der Geldwäsche nichts gegen ihn in der Hand hat? Seine afrikanischen Anwälte kämpfen nach wie vor für seine Freilassung. Ein Gericht hat unterdessen sogar seine Freilassung angeordnet. Aber es wird nichts unternommen. Weiterhin wird nationales und internationales Recht aufgrund eines Akts der Luftpiraterie verletzt. Und kein Wort darüber ist in unseren Zeitungen zu lesen oder aus dem Munde europäischer Diplomaten zu hören.

Der wahre Geist des Multilateralismus

Sowohl für die Behörden als auch für die Medien gilt: Der wahre Geist des Multilateralismus besteht darin, zunächst unparteiisch und einfühlsam zu sein und zu versuchen, alle Parteien zu verstehen, bevor man urteilt. Und er wird auch an den kleinen Handlungen des internationalen Lebens gemessen und nicht nur an der Abhaltung von grossen Gipfeln.

Möge das bevorstehende Treffen zwischen Putin und Biden uns zum Anlass dienen, unser Verhältnis zur Welt neu zu überdenken und unsere Perspektive zu erweitern. Dies ist der Preis, der gezahlt werden muss, wenn das internationale Genf wieder jener grosse multilaterale Treffpunkt werden soll, der es im 20. Jahrhundert war.

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