Kantonale Volksinitiative in Genf

Mindestlohn von 4000 Franken – Eine gefährliche «Genferei»

Mindestlohn von 4000 Franken – Eine gefährliche «Genferei»

Sie könnte sich auf andere Kantone und den Bund ausweiten

Von Rémy Delalande, Politik- und Wirtschaftsanalist

Ein Genfer Mindestlohn von 4000 Euro, ruft ein belustigtes Erstaunen der Pariser Journalisten des Fernsehsenders CNews hervor (siehe Illustration 1): Nein, das ist kein Schweizer Witz, sondern eher eine «Genferei».* Wer sind die Schuldigen? Die Gesamtarbeitsverträge? Die nicht vertraglich gebundenen Branchen? Besteht das Risiko eines Dominoeffektes in den anderen Kantonen oder auf Bundesebene?

Ein vermeintlicher Pyrrhus-Sieg

Das internationale Medienecho, das durch die am 27. September 2020 vom Genfer Volk mit mehr als 58% angenommene und von den Gewerkschaften lancierte kantonale Volksinitiative für einen Mindeststundenlohn von 23 Franken. (oder 4000 Franken monatlich) ausgelöst wurde, ist von den Medien natürlich als willkommenes Zeichen des sozialen Fortschritts, insbesondere für die Frauen, begrüsst worden. In Wirklichkeit könnte sie jedoch durchaus die problematische Sogwirkung der täglich 100’000 Grenzgänger aus den benachbarten französischen Departements Ain und Haute-Savoie (ein Drittel der Gesamtheit der Grenzgänger in der Schweiz) verstärken und die in der Schweiz ansässigen Arbeitnehmer noch weiter benachteiligen. Dies betrifft insbesondere junge unqualifizierte Lehrlinge und Senioren (ab 50 Jahren), die kaum mehr vermittelbar sind, da sie im Vergleich zu billigeren und gut qualifizierten Grenzgängern nicht wettbewerbsfähig sind. Wie Mauro Poggia, der für Beschäftigung zuständige Genfer Regierungsrat, in Erinnerung ruft, beträgt der durchschnittliche qualifizierte Lohn im benachbarten Frankreich 1500 Euro (!).

Gemäss den jüngsten Wirtschaftsprognosen des SECO wird das BIP der Schweiz im laufenden Jahr um fast 7% abnehmen. In Frankreich sind es bereits 14% (86'000 Arbeitsplätze sind im Gastgewerbe bereits verloren gegangen und 30'000 weitere dürften folgen). Die gegenwärtige Rezession, die schwerste seit 1975, hat in der Schweiz zu Kurzarbeit für rund eine Million Menschen geführt. Die offizielle Arbeitslosenquote, die im Mai bereits 3,4% erreichte, wird weiter steigen (bereits jetzt um das doppelte, wenn man die Ausgesteuerten, die Nichtregistrierten und Sozialhilfeempfänger hinzurechnet). Es ist daher utopisch, eine rasche Rückkehr zur früheren Wachstumsrate zu erwarten. (siehe Illustration 2+3)

Frankreichs massiver Export seiner Arbeitslosen ins Ausland wird also schwerwiegende Auswirkungen haben, da gemäss dem Eidgenössischen Bundesamt für Statistik die Zahl der arbeitslosen Schweizer bereits jetzt um 55% höher ist als die Zahl der arbeitslosen Ausländer. Besonders betroffen sind die Grenzkantone, wo die Grenzgänger aus dem immer entfernteren Ausland kommen. Leider hat der Ständerat (kleine Kammer des Schweizer Parlaments) die Motion von Ständerat Thomas Minder zum Abbau der Arbeitslosigkeit in Zeiten der durch Covid-19 ausgelösten Wirtschaftskrise abgelehnt.

Schwächung des «Rheinischen Modells» der Gesamtarbeitsverträge hin zu einer gewerkschaftlichen Konfrontation nach französischem Vorbild

Am Mikrofon des Westschweizer Fernsehens TSR verheimlichte am Tag nach der Abstimmung der für die Beschäftigung in Genf zuständige Mauro Poggia nicht, dass die Anwendung des Mindestlohns bereits im nächsten Monat nicht einfach sein werde, da die Volksinitiative Vorrang vor den geltenden Gesamtarbeitsverträgen habe. Den Unternehmern wird eine kurze Anpassungsfrist eingeräumt. Die Gespräche haben bereits begonnen, um die zu ändernden Grundlagen der Tarifverträge festzulegen, aber es wird nicht einfach sein. Es handelt sich also um nichts Geringeres als einen Dolchstoss in den Rücken der Gesamtarbeitsverträge und der Arbeitgeber, die unter keinen Umständen vom Mindestlohn werden abweichen dürfen – ausser für Studenten, Praktikanten und für die Solidaritätsarbeitsplätze.

Mauro Poggia warnt bereits, dass einige Unternehmer nicht werden überleben können, weil ihre Finanzen dies nicht zulassen. Wird der Staat die Differenz ausgleichen oder wird es zu Zwangsentlassungen oder erzwungener Kurzarbeit kommen? Es ist noch zu früh, um dies beantworten zu können. Da die Finanzen der KMU nicht unbegrenzt sind, liegt es auf der Hand, dass die Lohn- und Personalkosten nicht erhöht werden, im Gegensatz zu dem, was sich die Gewerkschaften und Wähler vorstellen. Die vorgesehenen Bussen bei Nichteinhaltung des Mindestlohns könnten im nächsten Jahr bis zu 30’000 Franken betragen. Es fällt auf, dass der Kanton Genf viel prompter linke Volksinitiativen umsetzt, als rechte Initiativen, zum Beispiel zur Begrenzung der Einwanderung oder zur Abschiebung ausländischer Krimineller, die kaum je umgesetzt werden.

Die Arbeitgeber sind enttäuscht, um so mehr, als nach ihren Angaben die Genfer Gehälter die höchsten in der Schweiz sind, die ihrerseits die zweithöchsten der Welt sind. 90% der Genfer Arbeitnehmer haben bereits Gehälter, die gleich hoch oder höher sind als die von den Gewerkschaftsinitiatoren geforderten.

Die Erfahrungen mit Mindestlöhnen in anderen Ländern zeigen folgendes auf: Ein einziger, vom Staat diktierter Mindestlohn wird rasch zum allgemeinen Referenzlohn. Von da an zieht er alle Löhne nach unten. Warum sollte ein Arbeitgeber mehr als das vorgeschriebene Minimum zahlen? Wie soll ein gefährdeter Arbeitnehmer über einen höheren Lohn verhandeln können? In einem sich verändernden und herausfordernden Arbeitsmarkt wird der Mindestlohn paradoxerweise zu einem zusätzlichen Schwächungsfaktor für die Verteidigung der Arbeitsbedingungen der am wenigsten gut platzierten Arbeitnehmer. Die anfälligsten Branchen und Arbeitnehmer sind am stärksten gefährdet, wenn ein Mindestlohn eingeführt wird, was das Risiko der Schwarzarbeit erhöht. Arbeitgeber in schwierigen Branchen werden es sich nicht leisten können, solche Löhne zu bezahlen, und es sind die kleinsten Firmen, die von einer solchen Massnahme am stärksten betroffen sein werden: Bäckereien, Quartierläden, Handwerker, all jene, die unsere Stadt lebendiger machen und uns mit lokalen Dienstleistungen versorgen.

Muss man in der Schweiz und in den anderen Kantonen einen Dominoeffekt befürchten?

Die Idee von Gewerkschaften und linken Kreisen, einen Mindestlohn in der Schweiz einzuführen, ist nicht neu. Glücklicherweise war sie am 18. Mai 2014 von mehr als 76% der Schweizer Stimmberechtigten zurückgewiesen worden. Auf kantonaler Ebene ist Genf nach Neuenburg, Jura und Tessin (ab 2021) der vierte Schweizer Kanton, der einen Mindestlohn einführt. Der Kanton Waadt seinerseits hatte ihn 2011 mit 51% der Stimmen abgelehnt. In anderen Kantonen sind Gewerkschaftsaktionen geplant, insbesondere im Kanton Basel-Stadt, wo am 20. Februar 2019 eine Volksinitiative mit 4500 Unterschriften eingereicht wurde. Die Regierung hat dazu einen Gegenvorschlag ausgearbeitet.

  1. September 2020 – Ein schwarzer Sonntag für die Gesamtarbeitsverträge

Die Tatsache, dass der Vaterschaftsurlaub von mehr als 60% der Wählerinnen und Wähler akzeptiert wurde, ist ebenfalls eine schlechte Nachricht sowohl für die Wirtschaft als auch für die Beschäftigten. Dieses Ergebnis, das im Widerspruch zum Geist der Gesamtarbeitsverträge steht, ist das Ergebnis einer unglaublichen Kehrtwende des Bundesrates und einiger bürgerlicher eidgenössischer Parlamentarier, die de facto die Initiative der Linken angenommen haben, obwohl sie zuvor dagegen waren. Wie der Schweizerische Gewerbeverband (SGV) ganz richtig bemerkt, haben die Befürworter des Projekts die Tatsache ausgeblendet, dass diese neue Sozialversicherung weit über 230 Millionen Franken an direkten Kosten hervorrufen wird. Zudem hat eine (vom Basler Beratungsbüro BSS) im Auftrag des Bundes durchgeführte Gesetzesfolgenabschätzung gezeigt, dass die indirekten Kosten für zusätzliche Urlaubstage zwei- bis viermal höher sind als die direkten Kosten. Für die Wirtschaft und insbesondere für die KMU ist dies keineswegs «tragbar», im Gegensatz zu dem, was Bundesrat Alain Berset vor der Presse erklärt hat. Der Vaterschaftsurlaub ist in Wirklichkeit nichts weiter als eine Spielerei, die die Erwerbsersatzordnung (EO) und Gehaltszahlungen belasten wird, während eine Anpassung der Arbeitszeit konsequenter gewesen wäre. Mit diesem bequemen Trick wird die Frage der hohen Belastung der Familien durch Gebühren und Steuern, die weit über zwei Wochen hinausgeht, beschönigt. Was ist mit den Selbständigen und den Handwerkern: Niemand kümmert sich wirklich um sie.

*     Als «Genferei» werden in der Schweiz bereits seit dem 19. Jahrhundert leicht scherzhaft die heftigen politischen Skandale und Streitereien bezeichnet, die im Kanton Genf mit einer gewissen Regelmässigkeit auftreten. Das Wort wird auch im Französischen als deutsches Lehnwort verwendet. (Wikipedia)

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