Buchbesprechung

«Unter Schweizer Schutz»

Carl Lutz, 1942
(Bild Nachlass Hirschi)

Wie der Schweizer Diplomat Carl Lutz 50 000 Leben rettete

von Thomas Scherr

(19. Mai 2021) Dass es auf den Einzelnen ankommen kann, zeigt sich am Beispiel des Schweizer Diplomaten Carl Lutz. In Zeiten kältester Grausamkeit und grösster Abstumpfung riskierte dieser Mann sein Leben, um Tausende von Juden vor dem sicheren Tod zu retten.

In dem aufwendig erstellten Buch: «Unter Schweizer Schutz. Die Rettungsaktion von Carl Robert Lutz (1875–1975) während des Zweiten Weltkriegs in Budapest – Zeitzeugen berichten»,* herausgegeben von Agnes Hirschi und Charlotte Schallié, tritt dem Leser die bestürzende Situation in dem von der deutschen Armee 1944 besetzten Budapest vor Augen. Nach einer historischen Einführung und zahlreichen, sehr bewegenden Zeitzeugenberichten ergibt sich ein Einblick in die von Carl Lutz koordinierte Rettungsaktion.

Verhandeln mit Adolf Eichmann

Der Schweizer Diplomat musste 1944 mit Nazigrössen wie Adolf Eichmann, der die Deportation und Vernichtung der Juden organisierte, um «Schutzbrief»-Kontingente feilschen. Mit diesen «Briefen» konnten die in Budapest Zuflucht suchenden Juden unter den lebensrettenden Schutz der Schweizer Gesandtschaft gestellt werden – mit der offiziellen Aussicht, nach Palästina auswandern zu können. Angesichts der sich dramatisch zuspitzenden Situation weitete Lutz die vorgegebenen Kontingente auf eigene Verantwortung auf viele Tausende Menschen aus. Gleichzeitig musste er unter anderem mit dem ungarischen Aussenminister Gábor Kemény darüber verhandeln, Häuser unter Schweizer Obhut zu stellen, um die steigende Zahl von Hilfesuchenden unterzubringen. Die Rettungsaktionen begannen im Mai 1944 und endeten an Weihnachten 1944 mit der Befreiung durch die sowjetische Armee.

«Unter Schweizer Schutz», Menschen-
schlange vor der Schweizer Botschaft

Risiken eingehen, um andere zu retten

«Von Diplomaten wird eigentlich nicht erwartet, dass sie Helden sind, die Risiken eingehen. Es war sein Gewissen, das Carl Lutz dazu bewog, sein Amt unter grossen Risiken für seine Karriere über die zulässigen Grenzen hinaus zu nutzen. Und er ging gar ein gewisses Risiko für seine persönliche Sicherheit ein, um völlig fremde Menschen zu retten, die der Verfolgung ausgesetzt waren.» (S. 475) So formulierte es der damals noch 8-jährige Miklós Weisz viele Jahrzehnte später in einer Rede im Jahr 2005.

Wer war dieser mutige Schweizer Diplomat? Lutz wurde in Walzenhausen, Appenzell-Ausserrhoden, als zweitjüngstes von zehn Kindern geboren. Sein Vater, der einen Steinbruch betrieb, verstarb früh. Seine Mutter war Sonntagsschullehrerin in einer Methodistengemeinde und kümmerte sich um die Armen, obwohl die Familie selbst kaum etwas hatte. Sie war eine warmherzige Frau und ein Vorbild für Carl Lutz, der seine Mutter liebte und verehrte. Da ihm ein Studium in der Schweiz aus finanziellen Gründen nicht möglich war, wanderte er nach einer kaufmännischen Lehre in die USA aus. Durch jahrelange Fabrikarbeit konnte er sich dort ein Studium für Geschichte und Jura finanzieren. In dieser Zeit begann auch seine diplomatische Karriere mit Aushilfsstellen in der Schweizer Gesandtschaft. Im Jahr 1935 heiratete Lutz Gertrud Fankhauser. Nach verschiedenen beruflichen Stationen arbeitete Lutz schliesslich in Jaffa, das für das damalige Palästina und Transjordanien zuständig war. Dabei vertrat er als Vizekonsul auch die Interessen deutscher Reichsangehöriger in Palästina. (S. 13f.)

Alexander Schlesinger, geb.1928, wurde von Carl Lutz vor
seiner Erschiessung gerettet. Im Interview 2012. (Bild aus
dem besprochenen Band).

Mut durch seinen moralischen Kompass

Auf die Frage, wie es dazu kam, dass Carl Lutz sich in Budapest so stark engagierte, versuchte der Autor und Produzent Daniel von Aarburg («Carl Lutz – der vergessene Held») in einem Interview mit dem Schweizer Fernsehen SRF 2014 eine Antwort zu finden: «Das ist die grosse, unerklärbare, spannende Frage, wenn man sich mit Carl Lutz beschäftigt. Wie kann ein Mann, der wegen seiner Schüchternheit eine Ausbildung zum Pfarrer abbrechen musste, mit der obersten Nazi-Hierarchie einen derartigen Deal über jüdisches Leben aushandeln und dazu noch Kopf und Kragen riskieren, indem er Eichmann und Konsorten bauernschlau hinters Licht zu führen versuchte? Ich kann es mir nur mit seiner Frömmigkeit erklären, die ihm den moralischen Kompass geliefert und im entscheidenden Moment seines Lebens den entsprechenden Mut gegeben hat, seinem Gewissen zu folgen und in einem einzigartigen Akt von Zivilcourage nicht bloss sein diplomatisches Pflichtenheft zu erfüllen. Carl Lutz war ausserdem ein Humanist und Menschenfreund, er liebte die Vielfältigkeit der menschlichen Existenz…» (SRF DOK vom 28.8.2014)

Menschenschlange vor der Schweizer Botschaft («Glas-
haus»), 1944 (Bild Nachlass A. Hirschi)

Deportation von 430 000 Juden in nur 7 Wochen

Mit dieser Rettungsaktion, an der auch andere Ländervertretungen beteiligt waren, standen Lutz und seine Helfer vor riesigen logistischen und bürokratischen Herausforderungen: Für Tausende heimlich Ausweispapiere herstellen, Fotos machen, Schutz vor gewalttätigen Übergriffen organisieren, Schutzräume suchen, Nahrung besorgen usw. Es entstand ein grosses Netzwerk aus unterschiedlichsten Gruppen und Personen, die gemeinsam an dem Ziel arbeiteten, so viele Menschen wie nur möglich zu retten, waren doch nach der Besetzung Ungarns durch die deutsche Wehrmacht innerhalb nur weniger Wochen – vom 15. Mai 1944 an – 430 000 Juden aus der Provinz deportiert worden, bürokratisch ausgeklügelt und organisiert durch die Vernichtungsmaschinerie Eichmanns. Aufgrund des internationalen Drucks stoppte der damalige ungarische Regent, Admiral Miklós Horthy, diese Deportationsaktion am 6. Juli. Doch schon am 15. Oktober wurde Horthy gedrängt, zugunsten der nazistischen Pfeilkreuzler zurückzutreten. Nun verstärkte sich der Druck auf die heimlichen Helfer und Retter um so mehr. Sie alle hofften auf ein schnelles Vorrücken der sowjetischen Armee.

Carl Lutz in der zerbombten
britischen Botschaft, 1944 (Bild
Nachlass A. Hirschi)

«…er brauchte Hunderte andere, die ihm halfen…»

Über die Arbeit rund um die Rettung der ungarischen Juden berichtete der damals 24-jährige, im Untergrund kämpfende ungarische Offizier Paul Fabry später: «Er [Carl Lutz] war ein Beispiel dafür, was möglich ist. Aber jene, die ihm halfen, wussten auch, dass einer alleine keinen einzigen Menschen retten konnte. Es gab keinen einzigen geretteten Juden, ohne dass nicht Dutzende andere daran beteiligt waren. Da war derjenige, der ihn ins Haus hereinliess, derjenige, der ihn zum Taxi brachte, derjenige, der ihm ein bisschen Kleingeld oder etwas zu essen gab, derjenige, der mit gefälschten Bescheinigungen von einem Ort zum anderen rannte, derjenige, der Telefonanrufe machte, um ihm zu sagen, er solle fliehen. Es war eine Kette von Ereignissen, und eine einzige Sekunde konnte von Bedeutung sein. Wo konnte in dieser Sekunde jemand helfen? War jemand da, der einem zu Hilfe kam? War da jemand da, der einem dieses Papier gab? Niemand konnte alleine Tausende Verfolgte retten, und das traf auch auf Lutz zu. Lutz war ein Held, aber er brauchte Hunderte andere, die ihm halfen.» (S. 64f.) Aber eben, Lutz war derjenige, der sich wirksam ins Zeug legte, derjenige, der die Aktionen koordinierte, dem sich dann andere anschlossen. Zum Schluss wurden über 50'000 Menschen vor dem sicheren Tod gerettet. – Und was beschäftigte Lutz in den Jahren danach? Das, was er noch hätte tun können, um noch mehr Menschen retten zu können … (15)

Letzte lebende Augenzeugen

In den Nachkriegsjahren geriet diese Rettungsaktion fast in Vergessenheit. Erst nach seinem Tod wurde sein Wirken von der breiten Öffentlichkeit wahrgenommen. Nach dem eindrücklichen Film «Carl Lutz – der vergessene Held» von Daniel von Aarburg, der 2014 ausgestrahlt wurde, folgt nun die vorliegende Publikation mit Aussagen der letzten noch lebenden Zeitzeugen. Lutz’ Stieftochter Agnes Hirschi hat zusammen mit Charlotte Schallié und einem internationalen Team dieses wertvolle Buch zusammengestellt.

Agnes Hirschi, Herausgeberin,
Stieftochter von Carl Lutz

«Sein Leben der Rettung von Menschenleben widmen»

2012 hielt der in den USA lebende Alexander Schlesinger fest: «Ja, wir sind eine Generation, die am Aussterben ist; bald gibt es niemanden mehr mit persönlichen Erinnerungen, und Carl Lutz wird für alle zur Geschichte gehören. [In den letzten Jahren] ist Carl Lutz in meinen Augen noch grösser geworden – vielleicht weil mir mit dem Älterwerden bewusst wurde, welche Risiken er auf sich genommen hat. Das war mir 1944 noch nicht so klar wie heute. Carl Lutz hat sein Leben ebenfalls aufs Spiel gesetzt. Niemand war in Sicherheit. […] Es ist wirklich schwer zu sagen, was genau in seinem Kopf, in seinem Herzen vorging, als er beschloss, sein Leben der Rettung von Menschenleben zu widmen. Was bringt einen Menschen dazu, das zu tun, während um ihn herum Menschen andere Menschen vernichten? Aber wenn ein Mensch sagt: ‹Nein, das ist nicht in Ordnung – es ist nicht in Ordnung, Kinder, Frauen, alte Männer, wehrlose Menschen zu töten›, dann ist das ein Grund, ihn über andere zu erheben. Carl Lutz war ein solcher Mensch.» (S. 331)

Charlotte Schallié, Herausgeberin,
Lehrstuhl University Victoria, Canada

Es waren viele, die so reagierten und empfanden wie Lutz, und ihr Handeln war zutiefst menschlich. Auch Lutz’ wechselnde Vorgesetzten in der Budapester Gesandtschaft wussten um seine sich ausweitenden Rettungsaktionen. Nicht zu vergessen sind die verschiedenen Gesandtschaften anderer neutraler Staaten, die ihn unterstützten und selbst aktiv wurden, wie die schwedische, die spanische, die portugiesische Gesandtschaft oder die Nuntiatur des Vatikans oder das IKRK. Weltweit bekannt wurde das Engagement des Schweden Raoul Wallenberg, der auch eng mit Lutz zusammenarbeitete.

Ja – es waren neutrale Staaten und Institutionen. Auch aus humanitärer Sicht darf der Wert der Neutralität nicht unterschätzt werden.

* «Unter Schweizer Schutz. Die Rettungsaktion von Carl Lutz während des Zweiten Weltkriegs in Budapest – Zeitzeugen berichten», herausgegeben von Agnes Hirschi und Charlotte Schallié. Limmat-Verlag, Zürich 2020

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