China
Chongqing, die Weltstadt, die die Welt gerne ignoriert
von Guy Mettan,* Genf
(23. Mai 2025) (CH-S) Was wissen wir über China? Nachrichten, Berichte und Reportagen über das Land fallen durch die einseitige Berichterstattung unserer Mainstreammedien meistens negativ aus. Völlig anders nimmt sich der Reisebericht von Guy Mettan aus. Lesen Sie selbst.

(Bild zvg)
Wenn Sie die Herrschaft der Quantität inspiriert, dann wird Sie Chongqing begeistern. Es ist die Stadt der Masslosigkeit und der Superlative. 2500 Jahre alt, grösste Stadt Chinas, flächenmässig grösste Stadt der Welt (gleich gross wie Österreich aber mit 32 Millionen Einwohnern) und 2200 Hochhäuser, ist sie auch die weltweit führende Industriemetropole: Hier werden insbesondere 30 Prozent aller Laptops, unzählige Smartphone-Komponenten, ein Drittel aller Motorräder und ein Achtel aller chinesischen Autos hergestellt. Ihre Wachstumsrate hat diejenige der Region Guangzhou-Shenzhen übertroffen. Diese Bedeutung macht sie nun zu einer der vier Städte, die neben Peking, Shanghai und Tianjin direkt der Zentralregierung unterstehen.

Die Stadt liegt in einer bergigen Region im Südwesten Chinas am Ufer des Jangtse und zeugt vom wirtschaftlichen Aufschwung der Provinzen in der Nähe des historischen Zentrums des Landes, Sichuan. Ihren Aufschwung verdankt sie den Logistikrouten, die sie geschaffen hat, um sich zu öffnen: der Nord-Süd-Achse nach Xian-Peking und Guangzhou, der Ost-West-Achse zu den Häfen an der Pazifikküste einerseits und den neuen Seidenstrassen, die über Zentralasien nach Russland und Europa führen, andererseits.
Und doch: Wer ausserhalb Asiens hat schon von Chongqing gehört und kann die Stadt auf einer Karte finden? Kaum jemand.
Eine Mauer der Unwissenheit
Diese Mauer der Unwissenheit ist symbolisch für die Kluft zwischen dem Westen und China und führt zu Missverständnissen über die Tragweite der chinesischen Fortschritte und die Grösse der realen Wirtschaft des Landes. Wir verhalten uns gegenüber China wie der französische Minister Bruno Le Maire, der nach dem 24. Februar 2022 den Zusammenbruch der russischen Wirtschaft prophezeite. Besessen von unseren moralischen Vorurteilen, unserer wachsenden Sinophobie und unserem Überlegenheitsgefühl, urteilen, verurteilen und beschuldigen wir, ohne uns die Mühe zu machen, etwas zu wissen.
Das ist jedenfalls der Eindruck, den ich nach einer weiteren zwölftägigen Reise in China gewonnen habe, die diesmal den Entwicklungen der künstlichen Intelligenz in Industrie und Medien sowie dem Besuch alter buddhistischer Stätten und hochmoderner Museen in den Regionen Sichuan und Shanxi gewidmet war. Das Land, ist nun verstärkt darauf bedacht, sein reiches kulturelles Erbe in all seinen Formen, von KI-gestützten Dokumentarfilmen bis hin zu Ausstellungen klassischer Malerei, zur Geltung zu bringen.

Zur künstliche Intelligenz
Die künstliche Intelligenz, von der das plötzliche Auftauchen von Deepseek auf der internationalen Bühne nur das auffälligste Randphänomen darstellt, ist seit langem zu einer wichtigen nationalen Herausforderung geworden. Überall wetteifern Städte, Provinzen und Unternehmen darum, als Erste die Software für die Steuerung von Kläranlagen, für Elektroautos, für ein System zur Rückgewinnung von Funken aus Schweissrobotern oder für das effizienteste und sauberste System zur Produktion von Podcasts und Nachrichten zu entwickeln.
So zweifeln die Behörden von Chongqing angesichts der bereits erzielten Leistungen nicht an der glänzenden Zukunft ihrer Stadt. Sie heben ihr intelligentes Modell für die Verwaltung und die kommunalen Aufgaben hervor. Die KI hat die Funktionsweise des Kanalisationsnetzes erheblich verbessert, das innerhalb weniger Minuten auf tropische Regenfälle reagieren muss, die Hunderttausende Kubikmeter Regenwasser mit sich bringen. Dank der Daten von Überwachungskameras erleichtert sie die ständige Steuerung des Stadtverkehrs, indem sie die Flexibilität von Ampeln und Fahrspuren, die auch umgekehrt werden können, oder von Rolltreppen in U-Bahn-Stationen verbessert, um Staus zu reduzieren. Der Führer des ersten Zuges, der 2016 dank der neuen Seidenstrassen Asien mit Europa verband, berichtet, wie KI das Problem der Warenlagerung gelöst hat, wenn Züge Regionen durchqueren, in denen die Temperaturen zwischen +40°C und –40°C schwanken.

To Auto) – einer Megafabrik für intelligente Elektrofahrzeuge der
Spitzenklasse.
Stand der Industrie
Im Bereich der Industrie möchte ich neben dem führenden chinesischen Maschinenbaukonzern Taiyuan Heavy Machinery, der sowohl Riesenkräne als auch Lokomotivräder und Raketenstartrampen herstellt, nur die Automobilhersteller BYD (Build Your Dreams) und AITO (Adding Intelligence To Auto) nennen.
Wie Xiaomi, AION und Dutzende andere chinesische Hersteller ist auch diese Marke das Ergebnis eines Joint Ventures zwischen Huawei, dem Giganten im Bereich 5G und 6G, und SERES, einem Hersteller von intelligenten Elektrofahrzeugen der Spitzenklasse. In einem Vorort von Chongqing entstand eine Megafabrik, die grösser ist als die Gigafactory von Tesla in Shanghai. Sie kann nur nach vorheriger Anmeldung besichtigt werden: Fotos sind verboten und Smartphones müssen am Eingang ausgeschaltet werden.
Das Modell M9 fährt sich wie eine SpaceX-Rakete. Das Lenkrad und die Pedale scheinen nur der Dekoration zu dienen. Im assistierten Fahrmodus kann man sich in den Sitz zurücklehnen, Filme schauen oder Podcasts hören, indem man auf einen der unzähligen Bildschirme tippt, die das Cockpit auskleiden, und dabei lediglich per Sprachsteuerung Fahrhinweise geben.
Vorsicht ist jedoch geboten: Die chinesischen Hersteller kämpfen darum, ihre Modelle an die junge, technikbegeisterte Kundschaft zu verkaufen, und übertreiben dabei bei der Darstellung ihre technischen Leistungen. Kürzlich kamen drei junge Menschen ums Leben, weil sie sich zu sehr auf das Fahrassistenzsystem verlassen hatten. Die Branche fordert nun eine bessere staatliche Regulierung. Die fortschrittlichsten Modelle erreichen Stufe 3, wobei eine vollautomatische Steuerung erst ab Stufe 4 erreicht wird. In der Zwischenzeit werben die europäischen Hersteller BMW, VW und Co. um Huawei, um ihre Modelle vermehrt mit KI auszustatten und so ihre Position auf dem chinesischen Markt zu behaupten.

Lokalzeitung KI, computergenerierte Bilder und Videos in die Printmedien,
Radio-/Fernsehsender, Websites und sozialen Netzwerke integrieren.
Medien, Presse und Kulturindustrie
Die Medien, die Presse und die Kulturindustrie stehen dem in nichts nach. In der bescheidenen Stadt Yuncheng, tief in der Provinz Shanxi, erklärt die Leiterin des Newsrooms, wie die Redakteure der Lokalzeitung KI, computergenerierte Bilder und Videos in die Printmedien, Radio-/Fernsehsender, Websites und sozialen Netzwerke (Weibo, WeChat und Tiktok) integrieren und dabei die aktuellsten Daten berücksichtigen, die von Lesern, Hörern und anderen Followern empfangen werden. Die Journalisten haben uneingeschränkten Zugriff auf Big Data und die vollständig digitalisierten Archive der Verlagsgruppe seit ihrer Gründung im Jahr 1971. Die Produktion läuft rund um die Uhr.
In Peking, am Hauptsitz der Agentur Xinhua, bedeckt ein riesiger Bildschirm von dreissig Metern Länge und vier Metern Höhe die Wand des Newsrooms, der einem War Room im Pentagon ähnelt. Künstliche Intelligenz sorgt für die Auswahl der Themen, die Erstellung des Skripts und der Erzählung, die Produktion der Bilder und visuellen/akustischen Effekte sowie die Postproduktion. Virtuelle Moderatoren und Influencer kümmern sich um die Verbreitung von Nachrichten und Informationen auf verschiedenen Medien.
Eine gewisse alyona.nana, die vollständig chinesisch und digital ist, hat gerade die Fünf-Millionen-Follower-Marke überschritten und ihre erste Million Dollar in russischen Netzwerken verdient. Die Agentur arbeitet aktiv an der Produktion von Gross-Videos (LMV) in Fremdsprachen, wobei sie eine emotionale, «menschliche» Komponente hinzufügt, um den Eindruck der Künstlichkeit zu vermeiden, den synthetische Bilder und Figuren vermitteln können. Beeindruckend!
Der grösste nationale Markt für Internetnutzer in einer Sprache
Es ist natürlich schwierig, Aktivitäten, die vollständig auf Digitaltechnik, Ton und Bild basieren, mit Worten zu beschreiben. Aber ein Besuch an der Tsinghua-Universität, die zu den besten Universitäten der Welt gehört und deren Fakultät für Journalismus und Kommunikation laut dem Ranking der «Times Higher Education» zu den besten Asiens zählt, ermöglicht eine bessere Einschätzung der Reichweite der chinesischen Aktivitäten in diesem Bereich. Einer ihrer Gründer erinnert daran, dass China mit 1,1 Milliarden Internetnutzern den grössten nationalen Markt in einer Sprache hat, weit mehr als die Zahl der Menschen, deren Muttersprache Englisch ist. Die Menge an Daten und kollektivem Wissen, die den Forschern zur Verfügung steht, ist daher unübertroffen.
Dies erklärt den Erfolg von Huawei, dem es gelungen ist, Mikrochips herzustellen, die 6G zu aktivieren und GPS-Satellitennetzwerke zu entwickeln und damit trotz US-Sanktionen die amerikanischen Grosskonzerne auf ihrem eigenen Gebiet zu übertrumpfen. Dasselbe wird mit der künstlichen Intelligenz geschehen, die im Mittelpunkt des nächsten Technologiewettstreits steht. Das Schicksal der LLM (Large Language Models) hängt von der Anzahl der verfügbaren Akteure ab. China will nun mit der Schaffung neuer digitaler Seidenstrassen beginnen.
Neue digitale Seidenstrassen
Unser Professor erinnert daran, dass das Land vor etwa fünfzehn Jahren den Westen nachahmen wollte, indem es das CNN-Modell kopierte, globale Medien wie CCTV in englischer Sprache entwickelte und zahlreiche Programme zur Kulturförderung ins Leben rief. Angesichts der Grenzen dieser Strategie gegenüber der Konkurrenz durch amerikanische Plattformen beschloss China 2018, seine Strategie zu ändern und nicht mehr auf die Entwicklung von Inhalten, sondern auf die Entwicklung globaler Plattformen und Technologien mit Schwerpunkt auf der nationalen Kultur zu setzen (wobei TikTok und Deepseek die bekanntesten Beispiele sind).
Es ist von Filmen wie Wolf Warriors, die Captain America nachempfunden sind, zu Filmen übergegangen, die den amerikanischen Vorbildern nichts mehr schuldig sind, wie die Serien Wandering Earth (Nr. 1 auf Netflix im Jahr 2019) und Black Myth: Wukong (2024), deren Affenkönig, der Superheld der Geschichte, vom klassischen Epos Reise nach Westen inspiriert ist. Kurz gesagt, das Land hat sich von seiner Abhängigkeit von Hollywood befreit und will auf seine eigenen kulturellen Ressourcen setzen.
Eine spannende Zukunft
Mehr denn je bilden das Medium und die Technologie die Botschaft! Es bleibt abzuwarten, ob die chinesische Soft Power, sobald sie Fremdsprachen in die Online-Verbreitung ihrer Werke integriert hat, mit den USA in Sachen globalisierte Kulturproduktion wird gleichziehen können. Vorerst versichert Peking, einen «kulturellen Kalten Krieg» um jeden Preis vermeiden zu wollen, um den Zollstreit nicht noch weiter anzuheizen. Das Duell hat jedenfalls begonnen und verspricht spannend zu werden.
* Guy Mettan (1956) ist Politologe, freischaffender Journalist und Buchautor. Seine journalistische Karriere begann er 1980 bei der «Tribune de Genève» und war von 1992 bis 1998 deren Direktor und Chefredaktor. Von 1997 bis 2020 war er Direktor des «Club Suisse de la Presse» in Genf. Guy Mettan ist seit 20 Jahren Mitglied des Genfer Kantonsparlaments. |
(Übersetzung «Schweizer Standpunkt»)