«Wirtschaftliche Zwangsmassnahmen sind Verbrechen gegen die Menschlichkeit»

Sara Flounders. (Bild zvg)

Berichte vom «Internationalen Volkstribunal über US-Imperialismus» (Teil 2)

(11. April 2023) (Red.) Die Eröffnung des «Internationalen Volkstribunals über US-Imperialismus – Sanktionen, Blockaden und wirtschaftliche Zwangsmassnahmen» fand in New York am 28. Januar 2023 statt.1 (vgl. Kasten rechts) Das Tribunal wird etwa sechs Monate dauern und im Juli 2023 mit einer Abschlussveranstaltung im Simón-Bolívar-Institut in Caracas, Venezuela, enden.

Der «Schweizer Standpunkt» hat bereits in einem ersten Beitrag die Stellungnahme von Alfred de Zayas, ehemaliger unabhängiger UNO-Experte für internationale Ordnung, veröffentlicht, in dem er unter anderem den Begriff «Sanktionen» präzisierte.2 (vgl. Kasten Seite 2)

In einem zweiten Beitrag zum Thema publiziert der «Schweizer Standpunkt» nun Auszüge aus der Rede von Sara Flounders,* einer prominenten Organisatorin und Rednerin des Tribunals. Sie ist ausserdem Koordinatorin der «Sanctions Kill»-Kampagne.

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Sara Flounders: Die «Sanctions Kill»-Kampagne

Sara Flounders verknüpfte zu Beginn ihrer Rede die beiden Wörter «Sanktionen» und «töten», anschliessend stellte sie die Kampagne «Sanctions Kill» vor.

«Wenn Sie von Sanktionen hören, denken Sie an ‹töten› – weil Sanktionen tatsächlich töten. Wir wollten Sanktionen zu einem Wort machen, das so verhasst ist, wie das Wort Napalm, bei dem schon das Bild tödlich ist. Und das ist uns recht gut gelungen. […]

Die Kampagne begann mit dem Zusammenkommen vieler verschiedener Solidaritätsorganisationen, um zu versuchen gemeinsam eine Kriegstaktik der USA zu beschreiben, die still und tödlich ist. Wir konzentrierten uns darauf die Zusammenarbeit und den Austausch zwischen den Ländern und Solidaritätsgruppen herzustellen, die getrennt damit zu kämpfen haben, diese strangulierenden Massnahmen zu verstehen und zu erklären. Wir begannen mit einem Forschungsprojekt, um eine Liste der Länder zu erstellen, über die Sanktionen von den USA, der Europäischen Union und dem Vereinigten Königreich sowie von den UN-Sicherheitsorganen verhängt wurden. Die Liste beinhaltet 13 Länder, die aufgrund von Forderungen der USA UN-Sanktionen unterworfen sind. […]

Internationales Volkstribunal über US-Imperialismus – Sanktionen, Blockaden und wirtschaftliche Zwangsmassnahmen

Die Ziele sind in der Begleitbroschüre folgendermassen formuliert: «Wir werden das Tribunal als Organisierungs-, Bildungs- und Rechtsinstrument nutzen. Wir verfolgen zwei juristische Ziele: die Identifizierung von Klagemöglichkeiten vor internationalen und amerikanischen Gerichten und die Anfechtung sowohl einseitiger Zwangsmassnahmen (einschliesslich gezielter Sanktionen) als auch multilateraler Zwangsmassnahmen nach Kapitel VII der UN-Charta. [...]
Wir beurteilen Sanktionen als eines der wichtigsten Instrumente des US-Imperialismus und werden deren Auswirkungen auf verschiedene Lebensbereiche untersuchen, wobei der Schwerpunkt auf sozialen, politischen, wirtschaftlichen und ökologischen Fragen liegt.3
Wir werden Anhörungen zu den Auswirkungen von Sanktionen in 16 Ländern Lateinamerikas, Afrikas und Asiens durchführen.4 Während der Länderanhörungen werden Sachverständige, Opfer und Rechtsexperten Beweise gegen die USA vorlegen.»5

Wie werden Sanktionen verhängt und durchgesetzt?

Sanktionen gibt es aufgrund verschiedener Gesetzesvorlagen; es gibt sogenannte ‹policy riders› auf verschiedene Gesetzesvorlagen, die im Eiltempo durch den US-Kongress geschleust werden; andere werden durch Massnahmen der Exekutive erlassen. Sanktionen können von verschiedenen UN-Organisationen, dem US-Finanzministerium, dem US-Handelsministerium und dem US-Aussenministerium verhängt und dann durch US-SWIFT-Bankencodes durchgesetzt werden. Damit werden alle Banktransaktionen blockiert.

Die USA verlangen von jedem anderen Land, dass es sich auch daran halten muss, und droht mit Sanktionen oder massiven Geldstrafen. Das Ganze eskaliert und eskaliert. […]»

Zeugenaussage über die Auswirkungen von Sanktionen

Sara Flounders bezeugt die Auswirkungen von Sanktionen persönlich. Im Laufe der vielen Jahrzehnte, in denen die USA Kriege führen, hat sie mehrere der betroffenen Länder besucht. Meist sind dies Länder, deren Bevölkerung unter einer totalen Entwurzelung durch US-Sanktionen leiden. Sie hat mit eigenen Augen gesehen und miterlebt, dass die verheerenden Auswirkungen immer die Schwächsten treffen.

«Sanktionen verursachen Millionen von kleinen persönlichen Krisen. Keine der lebenswichtigen Medikamente zum Beispiel für Diabetes, Bluthochdruck oder Infektionen sind verfügbar. Ein Knochenbruch wird plötzlich zum Todesurteil. Verschmutztes, unbehandeltes Wasser, weil es kein Chlor gibt, ist tödlich, ebenso wie ein mehrstöckiges Gebäude, in dem plötzlich die Aufzüge oder Wasserpumpen nicht mehr funktionieren.

Wenn die US-Regierung Gelder aus der Staatskasse beschlagnahmt, ist es unmöglich, medizinisches Personal, Sanitäter oder Lehrer zu bezahlen. Durch Sanktionen werden alle Finanztransaktionen gestoppt: die Ein- und Ausfuhr von Medikamenten, Lebensmitteln, Konservierungsmitteln, Ersatzteilen, Batterien, Chips, Röntgengeräten, Spritzen, Düngemitteln und Pestiziden. Die Liste ist endlos.

Und plötzliche Verknappung führt immer zu wilder Hyperinflation. Es ist eine brutale Form des Krieges. Es ist eine Anti-Personen-Bombe, die in jedem Haus gezündet wird, und sie soll die Menschen auf panische Weise spalten. Sie erzeugt Flüchtlingswellen und verzweifelte Migranten. Und das ist beabsichtigt. […]

«Sanktionen» versus «einseitige Zwangsmassnahmen»

Im Frage-und-Antwort-Teil der Veranstaltung betont Alfred de Zayas, dass der Begriff «Sanktion» irreführend ist, denn in diesem Volkstribunal geht es um illegale «einseitige Zwangsmassnahmen» [Unilateral coercive measures=UCM]. Die USA, Kanada, Grossbritannien haben absolut kein Recht, andere Staaten zu bestrafen. Der Begriff «Sanktion» [= Bestrafung] impliziert, dass der Sanktionen verhängende Staat dazu moralisch berechtigt sei, weil der sanktionierte Staat irgendeines Fehlverhaltens schuldig sei. Dies ist dreiste Propaganda. Die einzigen gemäss Völkerrecht legalen Sanktionen sind diejenigen, die der UNO-Sicherheitsrat gutgeheissen hat – und sogar jene sind manchmal, zum Beispiel im Fall des Irak von 1991–2003, nicht zu rechtfertigen.

Verbrechen gegen die Menschlichkeit

Wenn wir sagen, dass es sich um ‹Verbrechen gegen die Menschlichkeit› handelt, dann ist das die richtige Definition. Ich habe die Auswirkungen der US-Sanktionen im Libanon, im Sudan und in Syrien gesehen, wo ein Drittel der Bevölkerung auf der Flucht ist. Auch in Gaza in den Flüchtlingslagern, wo jede Kalorie von den Zionisten zugeteilt wird, als Hungerkur gedacht, absichtlich. Die Hilflosigkeit, die bleibt einem erhalten. Man erinnert sich noch lange daran. […]

In Venezuela, das ein kostenloses Gesundheitssystem aufgebaut hatte, gab es in fast jeder Strasse in den Ballungsgebieten und in den Barrios kleine Kliniken, die kostenlos Medikamente ausgaben, Blutdruck und Ernährungsstand kontrollierten. Als die US-Sanktionen in Kraft traten, waren die Regale plötzlich leer. Es gab keine Mullbinden und kein Aspirin. Sie mussten schliessen. Sie hatten rein gar nichts mehr, was sie den Menschen anbieten konnten.

Kuba stellt in Afrika mehr medizinisches Personal zur Verfügung als die Weltgesundheitsorganisation (WHO). Sie haben unglaubliche Programme zur medizinischen Forschung. Aber Kuba kann seine eigene Bevölkerung nicht versorgen. Die Covid-Impfstoffe, die sie entwickelt hatten, konnten nicht ohne internationale Hilfskampagne für die Lieferung von Spritzen verteilt werden. Das sind Folgen der Sanktionen. […]

Strategie: Konzernmedien verkünden «nationale Sicherheitsbedrohung»

Die USA verhängen Sanktionen, indem sie zunächst die Konzernmedien nutzen, um eine langfristige Kampagne voranzutreiben, die das Zielland als ‹nationale Sicherheitsbedrohung› darstellt. Selbst Nicaragua wurde zu einer nationalen Sicherheitsbedrohung erklärt. Und das von den USA, einer Supermacht! Aber seien wir ehrlich. Auch Nicaragua stellt für die imperialistische Vorherrschaft der USA tatsächlich eine Bedrohung dar. Und warum? Weil sie ihrem Volk, ihrer Bevölkerung eine kostenlose Gesundheitsfürsorge und kostenlose Bildung bieten und an ihrem Erfolg wird deutlich, dass der US-Imperialismus nicht das tut, was er tun könnte: nämlich echte Probleme zu lösen. Deshalb stellt auch Nicaragua für sie eine Bedrohung dar. […]

Anspruch auf Reparationsleistungen

Sanktionen sind rassistisch. Sanktionen richten sich in erster Linie gegen farbige Menschen im globalen Süden.

Und ich möchte sagen, dass all diese Länder, gegen die Sanktionen verhängt wurden, Anspruch auf Reparationsleistungen haben. Reparationen für erzwungene Unterentwicklung. Genauso wie die afrikanische Bevölkerung in den USA und die Ureinwohner ebenfalls Anspruch auf Reparationen haben. […]

In Rot: 40 Staaten, die Wirtschaftssanktionen der USA
unterworfen sind. Viele davon sind ehemalige Kolonien
europäischer Länder. (Bild zvg)

Wirtschaftliche Kriegsführung

Die Verschärfung der US-Sanktionen gegen ein Drittel der Menschheit sendet Schockwellen an die gesamte Weltwirtschaft. Aber jetzt wehren sich die Menschen auf der ganzen Welt gegen diese brutale Form der wirtschaftlichen Kriegsführung. Die Dominanz des Dollars als Währung des globalen Handels wird in Frage gestellt.

Die Sanktionen sind wie ein Bumerang, der auf die USA und die Länder der Europäischen Union zurückprallt: Inflation, Engpässe in den Lieferketten, eine drohende Rezession, die im eigenen Land Notsituationen hervorruft. Und die USA reagieren mit einer weiteren Verschärfung der Sanktionen und einer Ausweitung ihrer Kriege. […]

Welche Auswirkungen hat das?

Die EU hat sich aufgrund des Drucks aus den USA von der Lieferung von billigem Gas aus Russland abgeschnitten. Es droht tatsächlich eine Hungersnot auf globaler Ebene. Die zunehmenden Sanktionen gegen China haben eine zerstörerische Wirkung auf die Wissenschaft und die Technologie auf globaler Ebene. Sie brechen Jahrzehnte lange Handelsvereinbarungen.

Der globale Süden – die Länder Afrikas, Lateinamerikas und die meisten Länder Asiens, die ehemals kolonialisierte Welt – hält sich nicht mehr an die Tausenden von Sanktionen, die von den USA und Europa verhängt wurden. […]

«Sanktionen – Eine Abrissbirne in der globalen Wirtschaft»

Sara Flounders ist Mitautorin des Buches «Sanctions: A wrecking ball in a global economy», das kürzlich in der 2. Auflage erschienen ist.
Dieses Buch wurde in 15 Sprachen übersetzt. Begleitet ist es von Power-Point-Toolkits, mit dem das Thema «Sanktionen» im Unterricht behandelt werden kann. Dazu kommen Webinare mit Vertretern aus vielen sanktionierten Ländern, Grafiken und weiteres mehr.
Ein wichtiger Bestandteil dieses Buches ist die erste Seite mit der Liste der 40 (aktuell 41) sanktionierten Länder und einige der Institutionen mit ihren Websites, die für die Verhängung von Sanktionen zuständig sind.

Keine unipolare Welt mehr

Eine neue Ära ist angebrochen. Das ist eine grosse Veränderung. Sie vollzieht sich vor allem mit den Sanktionen gegen Russland und China. Aber man kann es auch am Handel mit dem Iran und Venezuela sehen, am ständigen Austausch mit Syrien, an ganz neuen Vereinbarungen.

Den USA gelingt es immer weniger wirtschaftliches Chaos anzurichten. Viele Länder finden erfolgreich neue Wege, sich miteinander zu verbinden und trotz der Macht des US-Dollars in ihren Handelsbeziehungen andere Währungen zu verwenden. Das kann man bereits in vielen Ländern beobachten. Und das Volkstribunal ist Teil dieser neuen Ära.

Die sanktionierten Länder sind nicht zusammengebrochen. Es gibt neue Handelsabkommen, neue Ebenen der Zusammenarbeit: BRICS, Belt & Road Initiative, Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit. Die Welt ist keine unipolare Welt mehr.

Die grossen Widersprüche prallen aufeinander. Aber wir wissen, dass die sanktionierten Länder entschlossen sind, sich der Vorherrschaft der USA zu widersetzen. Auch wenn sie nur über wenige Ressourcen verfügen, fordern sie die Achtung ihrer Souveränität und Unabhängigkeit. Respekt vor dem Entwicklungsweg des anderen.

Es geht also um Multipolarität gegen die Hegemonieansprüche der USA. Wir können zuversichtlich sein: heute ist bekannt, dass der US-Imperialismus nicht allmächtig ist. Er verursacht enormes Leid in Syrien, in Afghanistan, im Irak, in der Ukraine und vielen weiteren Ländern – aber er ist nicht mehr siegreich.

Unsere Aufgabe ist es, den Widerstand zu verteidigen und ein Teil davon zu sein.»

* Sara Flounders ist eine amerikanische politische Autorin, die seit den 1960er Jahren in der progressiven und Anti-Kriegs-Bewegung aktiv ist. Sie ist Mitglied des Sekretariats der Workers World Party und eine der Hauptverantwortlichen des International Action Center. Sara ist zu erreichen unter: flounders.sara16@gmail.com.

(Übersetzung aus dem Englischen und Zusammenstellung: Ursula Cross)

«Das haben wir nicht verdient!» – Auswirkung und Folgen der US-Sanktionen

Dieser Bericht – verfasst von Rick Sterling, John Philpot und David Paul mit der Unterstützung von weiteren Mitgliedern der «Sanctions Kill» Koalition und zahlreichen Einzelpersonen aus den sanktionierten Ländern –ist in englischer Sprache unter dem Titel «We don’t deserve this» – The Impact and Consequences of US Sanctions auf https://sanctionskill.org/impact verfügbar.

1 https://sanctionstribunal.org/opening-event/

2 https://swiss-standpoint.ch/news-detailansicht-de-recht/uno-und-unilaterale-zwangsmassnahmen.html, 7. Februar 2023

3 Broschüre: https://sanctionstribunal.org/

4 Ebd. Äthiopien, Eritrea, Haiti, Iran, Irak, Libanon, Libyen, Palästina, Nicaragua, Nordkorea, Sudan, Kuba, Venezuela, Jemen und Zimbabwe, S. 3

5 Ebd. Zeitplan für Länderanhörungen, S. 5

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