Die Schweiz unter Druck
Zur schweizerischen Neutralität – Grundsätzliches und Aktuelles
von Pascal Lottaz,* Japan
(2. Mai 2025) (CH-S) Der Druck auf die Schweiz, sich dem europäischen Nato-Verbund anzuschliessen, hat sich in den vergangenen Wochen enorm verstärkt. Deutschland und Frankreich als direkte Nachbarn unseres Landes sowie Grossbritannien als ehemalige Weltmacht und die EU-Führung möchten Europa dringend auf Kriegswirtschaft und -bereitschaft umstellen. Dazu werden Milliardensummen bereitgestellt. Für sie scheint ein Krieg gegen Russland unumgänglich.

Neutralität.(Bild mt)
Italien und weitere europäische Länder distanzieren sich von dieser Einschätzung. Sie können keine direkte Bedrohung durch Russland erkennen und fordern eine friedens- und zukunftsorientierte Sicherheitsarchitektur, um die Ausweitung des Ukrainekriegs auf westeuropäische Länder zu verhindern.
Unsere Landesregierung, das eidgenössische Departement VBS (Verteidigung, Bevölkerungsschutz und Sport), die Armeeführung und Teile des Parlaments haben in den letzten drei Jahrzehnten die Anbindung der Schweiz an die Nato vorangetrieben. Heute sind ein Stopp und die Korrektur dieser Fehlentwicklung dringend. Dazu braucht es eine offene, sachliche und ehrliche Debatte in unserem Land.
Die eidgenössische Volksinitiative «Wahrung der schweizerischen Neutralität» (Neutralitätsinitiative) ist im April 2024 zustande gekommen. Diesen Sommer und Herbst wird sie im Parlament behandelt und voraussichtlich im Frühling 2026 Volk und Ständen zur Abstimmung unterbreitet.
Der Schweizer Pascal Lottaz ist ausserordentlicher Professor an der Universität Kyoto in Japan und ein ausgewiesener Experte für Neutralitätsfragen. Er leitet dort das Forschungsnetzwerk «neutralitystudies.com» und forscht zum Thema der Neutralität in den internationalen Beziehungen.
Am 1. Februar 2025 hat Pascal Lottaz im Rahmen des «Verein Schweizer Standpunkt» in Frauenfeld TG ein Seminar zur Neutralität der Schweiz durchgeführt. Im Nachgang dazu hat er uns verdankenswerterweise den folgenden Artikel zur Verfügung gestellt, der ursprünglich in Englisch verfasst wurde. Er analysiert die Optionen «Sicherheit durch Neutralität» und «Sicherheit durch kollektive Verteidigung».
* * *
In der sich rasant entwickelnden globalen Multipolarität stellen sich neue Sicherheitsfragen für die Schweiz. Die wichtigste davon hat aber nur wenig mit externen Faktoren zu tun, sondern mit unserer Konzeption der Schweiz als permanent neutraler Staat. Während nur die allerwenigsten im Lande das Neutralitätskonzept selbst in Frage stellen, zeigt sich immer stärker, dass unter der Oberfläche eine politische und ideologische Uneinigkeit bezüglich seiner grundlegenden Bedeutungen besteht. Das hat weitreichende Implikationen für die Ausgestaltung der Landesverteidigung. Dabei lautet die militärische Gretchenfrage: «Nun sag, wie hast du’s mit der Kooperation»?
Nachfolgend werden zuerst die beiden Sicherheitsstrategien «Sicherheit durch Neutralität» und «Sicherheit durch kollektive Verteidigung» in ihren Grundzügen dargestellt und danach die bestehenden politischen Präferenzen im Schweizer Politsystem analysiert, um daraus Einsichten für die kurz- und mittelfristige strategische Planung abzuleiten.
Zwei Sicherheitsmodelle sind auf dem Tisch
Der Sicherheitsdiskurs der Schweiz erlebt eine der gravierendsten Revisionen der letzten 200 Jahre. Das neue multipolare Sicherheitsumfeld und ein sich abzeichnender Sinneswandel im Inland untergraben traditionelle Bezugsrahmen. Am deutlichsten wird dies in einer neuen Debatte über die Neutralität des Landes – dem traditionellen Leitstern des schweizerischen Sicherheitsdenkens – zum Ausdruck gebracht. Neutralität ist zwar nicht der einzige Sicherheitsfaktor, aber ein grundlegender Faktor in Bezug auf Strategie und langfristige Planung. Die grundlegende Frage lautet:
Wird die Schweiz weiterhin Sicherheit durch bewaffnete Neutralität anstreben oder wird sie dem schwedischen und finnischen Modell folgen und Sicherheit durch kollektive Verteidigung innerhalb der Nato- und EU-Strukturen anstreben?
Dies sind zwei sehr unterschiedliche Sicherheitsmodelle, und trotz gegenteiliger Ankündigungen der ehemaligen Vorsteherin des Eidgenössischen Departements für Verteidigung, Viola Amherd,1 ist klar, dass beide Optionen auf dem Tisch liegen. Aufgrund des direktdemokratischen Systems der Schweiz kann die Frage, welchen Weg die Schweiz einschlagen wird, jedoch nicht von einigen wenigen Politikern oder ihren Parteien allein entschieden werden. Das kann nur der gesamte politische Prozess des Landes – und dazu wurde die Volksinitiative «Wahrung der schweizerischen Neutralität» im April 2024 in Bundesbern eingereicht. Zurzeit hängt die konkrete militärische Sicherheitsstrategie der Schweiz in der Luft, da sie selbst unterschiedlichen politischen Visionen unterliegt.
«Das Grundproblem besteht darin, dass «Sicherheit durch kollektive Verteidigung» und «Sicherheit durch bewaffnete Neutralität» auf zwei unterschiedlichen und (im Prinzip) unvereinbaren Strategien beruhen.»
Unvereinbare Strategien
Sicherheit durch bewaffnete Neutralität
Das Grundproblem besteht darin, dass Sicherheit durch kollektive Verteidigung und Sicherheit durch bewaffnete Neutralität auf zwei unterschiedlichen und (im Prinzip) unvereinbaren Strategien beruhen. Sicherheit durch bewaffnete Neutralität basiert auf einer Mischung aus «ein bisschen Peitsche» und «ein bisschen Zuckerbrot». Einerseits nutzen bewaffnete Neutrale ihre begrenzten militärischen Fähigkeiten, um potenzielle Angreifer mit einem gewissen Mass an Schmerz zu bedrohen und so zu signalisieren, dass ein Angreifer einen erheblichen Preis an Blut und Geld zahlen müsste, um die Verteidigung des Neutralen zu überwinden (die Peitsche).
Andererseits bieten Neutrale eine umfassende Zusammenarbeit an, was bedeutet, dass selbst potenziell feindliche Parteien in begrenztem Umfang durch Handel und Zusammenarbeit Vorteile erzielen können (das Zuckerbrot). Die Stationierung von Truppen oder die Nutzung der Infrastruktur des Neutralen für militärische Zwecke bleibt jedoch verboten.
Militärisch neutrale Staaten verfügen über eigene Abschreckungsmittel und sind gleichzeitig für alle Mächte in der internationalen Welt nützlich, um sie dazu zu bewegen, die Vorteile des Neutralen mit friedlichen Mitteln und nicht militärisch zu nutzen.
Dies waren die Strategien der meisten bewaffneten Neutralen während des Zweiten Weltkriegs, von denen einige erfolgreich waren (Portugal, Spanien, Irland, Schweden, die Schweiz und die Türkei), während andere die Achsenmächte (Belgien, Luxemburg, die Niederlande, Dänemark, Norwegen usw.) oder die Alliierten (Island, Iran) oder beide nicht abschrecken konnten.2
Die grosse Schwäche eines neutralen Sicherheitsansatzes besteht darin, dass ein Gegner, wenn das kleine Zuckerbrot nicht gross genug ist und die «kleine Peitsche» zu schwach wirkt, sich dafür entscheidet, den Preis mit Blut zu bezahlen, um alles, was er will, mit militärischen Mitteln zu erreichen. Im schlimmsten Fall kann ein Neutraler selbst zum Hauptobjekt kriegerischer Begierden werden, wie es beim kleinen Volk der neutralen Melier der Fall war, die im Peloponnesischen Krieg vom antiken Athen ausgelöscht wurden,3 oder beim neutralen Königreich Hawaii, das in den 1890er Jahren von den USA gestürzt und annektiert wurde.4
«Damit der Ansatz der neutralen Sicherheit funktioniert, brauchen bewaffnete Neutrale eine tragfähige Anreizstruktur gegenüber anderen Mächten, und sie müssen ein unabhängiges Abschreckungspotenzial bewahren, wenn auch unterhalb der Schwelle, eine offensive Sicherheitsbedrohung darzustellen.»
Damit der Ansatz der neutralen Sicherheit funktioniert, brauchen bewaffnete Neutrale eine tragfähige Anreizstruktur gegenüber anderen Mächten, und sie müssen ein unabhängiges Abschreckungspotenzial bewahren, wenn auch unterhalb der Schwelle, eine offensive Sicherheitsbedrohung darzustellen. Sie müssen das Sicherheitsdilemma vermeiden, in dem ihre militärische Bereitschaft von Gegnern als potenziell offensive Bedrohung angesehen werden und die Logik präventiver Militärschläge auslösen könnte, um sie zu entwaffnen.
Letzteres war einer der Hauptgründe, warum Schweden sein Atomprogramm im Kalten Krieg aufgab. Stockholm war sich bewusst, dass der Erwerb von Atomwaffen die Wahrscheinlichkeit eines sowjetischen Präventivschlags erhöhen könnte, anstatt die Unabhängigkeit des Landes zu schützen.5
Sicherheit durch kollektive Verteidigung
Sicherheit durch kollektive Verteidigung beruht dagegen auf der «Big Stick»-Logik, die durch zahlenmässige Stärke verwirklicht wird. Das Drei-Musketiere-Prinzip «Einer für alle, alle für einen» bedeutet, dass Staaten innerhalb eines Bündnisses versuchen, die Abschreckung auf ein Maximum zu erhöhen, um potenzielle Angreifer durch ihre vereinte Macht abzuschrecken. Dies impliziert auch die gemeinsame Nutzung militärischer Fähigkeiten, einschliesslich Waffensystemen, die bis hin zu Atomwaffen reichen. Ein wesentlicher Bestandteil moderner Bündnisse ist der «nukleare Schutzschirm», den die Vereinigten Staaten ausdrücklich auf Südkorea, Japan und ihre europäischen Nato-Partner ausdehnen.
Der Ansatz der kollektiven Verteidigung, insbesondere durch grosse und operativ integrierte Bündnisse wie die Nato, zielt darauf ab, so viel Macht zu projizieren, dass kein Gegner auch nur daran denken soll, einen Kampf mit ihr zu beginnen.
Die Vorteile von Bündnissen liegen auf der Hand, da sie die Abschreckungskapazität eines Staates um ein Vielfaches erhöhen. Sie bergen jedoch auch das Risiko des «Gefangenseins», das heisst ein Staat könnte gezwungen sein, gegen seinen Willen in den Krieg zu ziehen, um einem anderen Mitglied des Bündnisses zu helfen – selbst wenn dieser Verbündete unklug gehandelt hat. Bündnisse können auch von mächtigen Mitgliedern genutzt werden, um das Verhalten kleinerer Mitglieder zu überwachen.
Der Warschauer Pakt beispielsweise griff zweimal seine eigenen Mitglieder (Ungarn und die Tschechoslowakei) an, um die von der Sowjetunion favorisierten lokalen politischen Kräfte wiederherzustellen. Im schlimmsten Fall können gegnerische, aber ineinandergreifende Allianzen sogar zu massiven Kriegen führen, die durch relativ kleine Ereignisse ausgelöst werden, die Kettenreaktionen auslösen und einen Staat nach dem anderen in den Kampf ziehen. Der Erste Weltkrieg ist das Standardbeispiel dafür, wie eine grosse Anzahl von Staaten «schlafwandelnd» in einen Krieg der Allianzen geraten kann.6
Kooperierende Neutralität ist keine Option
Im Prinzip sind die beiden Strategien nicht nur deshalb miteinander unvereinbar, weil ihre Grundprinzipien einander aufheben (obwohl es kein internationales Gesetz zu diesem Thema gibt, wird weitgehend akzeptiert, dass ein militärisch neutraler Staat nicht Teil eines Militärbündnisses sein kann), sondern auch, weil sie, wenn sie vermischt werden, gefährliche strategische Schwachstellen schaffen.
Wenn ein Staat ohne Sicherheitsgarantien von anderen Ländern mit einem Bündnis zusammenarbeitet, macht er sich selbst zum ersten Angriffsziel eines potenziellen Gegners dieses Bündnisses, da er das schwächste und am wenigsten geschützte Glied in der Struktur ist. Gegner werden ausserdem dazu ermutigt, nicht verbündete Nationen anzugreifen, wenn ihre Zusammenarbeit mit einer feindlichen Allianz für diese Allianz wichtig wird.
Wenn beispielsweise ein Angriff auf den Neutralen der gesamten Allianz schaden kann, weil die Militärsysteme integriert sind und ein Schlag gegen die Infrastruktur des Neutralen die militärischen Fähigkeiten der Allianz schwächen wird, dann wird ein Präventivschlag gegen den kooperierenden Neutralen zu einer verlockenden Option.
«Tatsächlich verbietet das Völkerrecht neutralen Staaten, ihre Infrastruktur (einschliesslich der Funkwellenübertragung) kriegführenden Mächten zur Verfügung zu stellen, da dies ein nicht neutraler Akt ist, der einer Seite eines Konflikts hilft und es wahrscheinlicher macht, dass ein Gegner den neutralen Staat angreift, um den Hauptfeind zu schwächen.»
Tatsächlich verbietet das Völkerrecht neutralen Staaten, ihre Infrastruktur (einschliesslich der Funkwellenübertragung) kriegführenden Mächten zur Verfügung zu stellen,7 da dies ein nicht neutraler Akt ist, der einer Seite eines Konflikts hilft und es wahrscheinlicher macht, dass ein Gegner den neutralen Staat angreift, um den Hauptfeind zu schwächen. Es könnte (und sollte) noch mehr über den Begriff der «wohlwollenden Neutralität», seine Risiken und rechtlichen Auswirkungen gesagt werden,8 aber der Kürze halber werden wir mit der Analyse fortfahren, wo die Schweiz in Bezug auf diese beiden Sicherheitsoptionen steht.
Nato, Neutralität oder beides?
Oberflächlich betrachtet scheint es klar zu sein, dass die Schweiz immer noch auf Sicherheit durch Neutralität setzt. Jährliche Meinungsumfragen zeigen, dass eine überwältigende Mehrheit von 91% für die Beibehaltung der Neutralität ist.9 Dieselben Umfragen zeigen jedoch auch, dass es erhebliche Unterschiede in den Ansichten darüber gibt, was diese Neutralität beinhalten sollte – und was nicht. Insbesondere bei der Frage der militärischen Zusammenarbeit mit der Nato sind 52% der Meinung, dass die Schweiz enger mit dem Bündnis zusammenarbeiten sollte.10 30% der Befragten stimmen sogar der Aussage «Die Schweiz sollte der Nato beitreten» zu, was bedeutet, dass mindestens 21% der Befragten Nato und Neutralität nicht als unvereinbar ansehen.11
Darüber hinaus gibt es auch innerhalb der Bevölkerung erhebliche Unterschiede. Im Allgemeinen stehen jüngere Menschen der Nato (oder einer Zusammenarbeit mit ihr) weniger positiv gegenüber, während Befragte mit höherem Bildungsniveau eher für eine Zusammenarbeit und sogar einen Beitritt sind.
Aber es gibt auch andere politische Kräfte, die die Debatte in verschiedene Richtungen lenken. So zeigt eine aktuelle Studie von Ejdus und Hoeffler,12 dass die Eliten in neutralen und bündnisfreien Ländern dazu neigen, die Nato und die transatlantische Integration im Allgemeinen viel positiver zu sehen, als Meinungsumfragen vermuten lassen würden. Die Autoren stellen fest, dass «atlantische Präferenzen nicht nur unter den politischen Eliten weit verbreitet sind, sondern auch systematisch vor der Öffentlichkeit in allen militärisch neutralen europäischen Ländern verborgen werden» und dass «die Eliten diese Präferenzen häufig nicht öffentlich äussern, da die Bevölkerung tief in der Politik der militärischen Neutralität oder Nichtpaktgebundenheit ihrer Nation verwurzelt ist».13
Diese Studie konzentriert sich zwar nur auf Schweden, Österreich und Serbien, aber es ist nicht weit hergeholt, daraus zu schliessen, dass auch in der Schweiz die Entscheidungsträger in der Bundesverwaltung die Nato in einem günstigeren Licht sehen könnten als die breite Öffentlichkeit. Schliesslich hat der Bundesrat aus seinen Präferenzen kein Geheimnis gemacht.
In den letzten drei Jahren hat er vier Studien veröffentlicht, in denen er sich für eine engere Sicherheitszusammenarbeit mit der Nato und der EU ausgesprochen hat, wie es sie in der Schweizer Geschichte noch nie gegeben hat. Im Bericht von 2022 heisst es:
«Die Schweiz strebt seit langem danach, im Falle eines bewaffneten Angriffs Optionen zu haben, um sich entweder unabhängig zu verteidigen oder ihre Verteidigung gemeinsam mit anderen Staaten zu organisieren. Um die Fähigkeiten zur militärischen Zusammenarbeit zu verbessern und damit die Handlungsfreiheit der Schweiz zu erhöhen, muss sich die Armee rechtzeitig auf die internationale Zusammenarbeit vorbereiten. Die Möglichkeiten der Zusammenarbeit sollten genutzt werden, um die Verteidigungsfähigkeiten unter Wahrung der Neutralität zu verbessern.»14
Der Bericht von 202415 empfiehlt sogar die Interoperabilität der Schweizer Militärsysteme mit den Nato-Standards durch eine «schrittweise Teilnahme» an den Nato-Zertifizierungsprozessen. Es wird vorgeschlagen, dass die Nato «bei Bedarf die Interoperabilität und die militärischen Fähigkeiten bestimmter Einheiten der Schweizer Armee bewerten und zertifizieren» könnte, was bedeutet, dass die Schweiz nicht nur danach streben würde, Nato-kompatibel zu sein, sondern bereits sicherstellen würde, dass die Nato selbst ihre Interoperabilität zertifiziert.
«Es besteht kein Zweifel daran, dass die Vision dieses Berichts des Bundesrats die Umwandlung der Schweizer Streitkräfte in einen einsatzfähigen Teil der militärischen Gesamtkapazität der Nato ist.»
Darüber hinaus wird in dem Bericht vorgeschlagen, dass die Schweiz am Nato-Projekt «Federated Mission Networking» (FMN) teilnehmen sollte, dessen Ziel es ist, «die Führungs- und Kommunikationssysteme der Streitkräfte in ein einziges multinationales Führungssystem zu integrieren, um eine integrale Führungsfähigkeit auf technischer Ebene zu schaffen». Und weil «FMN als Eckpfeiler jeder Zusammenarbeit mit der Nato […] gilt, ist eine Beteiligung der Schweiz notwendig.» Es besteht kein Zweifel daran, dass die Vision dieses Berichts des Bundesrats die Umwandlung der Schweizer Streitkräfte in einen einsatzfähigen Teil der militärischen Gesamtkapazität der Nato ist.
Der Abschnitt schliesst mit der Feststellung,
«diese Zusammenarbeit würde es der Schweiz ermöglichen, bei Bedarf ihre eigenen Systeme von Beginn einer gemeinsamen Übung oder Operation an in die Führungs- und Kommunikationssysteme der Nato zu integrieren – sei es bei der militärischen Friedenssicherung oder bei der Verteidigung. Die Nato bezeichnet dies als ‹Day Zero Connectivity›, eine Fähigkeit, über die die Schweiz bei Bedarf verfügen muss.»16
Während Kritiker argumentieren, dass dieser Ansatz auf die operative Aufgabe der Neutralität hinausläuft, behauptet der Bundesrat,17 dass er sich lediglich auf den schlimmsten anzunehmenden Fall eines bewaffneten Angriffs auf die Schweiz vorbereitet. Sollte dies geschehen, würden die rechtlichen Anforderungen des Neutralitätsrechts ohnehin entfallen und das Land könnte sich kollektiv verteidigen. Mit anderen Worten: Der Bundesrat zieht es vor, den Boden für eine kollektive Selbstverteidigung zu bereiten – aber nur, wenn dies erforderlich sein sollte.
Der vierte und jüngste Bericht einer vom Verteidigungsdepartement eingesetzten Studienkommission kam ebenfalls zu dem Schluss, dass die Zusammenarbeit mit der Nato und der EU «aufgrund der neuen Bedrohungslage über die bisherige Zusammenarbeit hinausgehen muss. Die Zusammenarbeit sollte sich auf die gemeinsame Verteidigung konzentrieren [Hervorhebung hinzugefügt].»18
Darüber hinaus gab es in den letzten zwei Jahren konkrete Bemühungen, diese politischen Leitlinien umzusetzen, darunter hochrangige Treffen von Militärvertretern der Schweiz und der Nato,19 eine Vereinbarung über die Eröffnung eines Nato-Verbindungsbüros in Genf (wenn auch offiziell nicht zur Kontaktaufnahme mit der Regierung in Bern),20 eine Absichtserklärung über den Beitritt der Schweiz zur EU-Initiative Sky-Shield21 und, am sichtbarsten, die Teilnahme von Bundesrätin Viola Amherd an einem Treffen des Nordatlantikrats (dem politischen Arm der Nato) – eine Premiere in der Geschichte der Schweiz.22
Weder beschlossene Sache noch Parteipolitik
Doch während die politische und militärische Annäherung zwischen der Schweiz und der Nato offensichtlich und unübersehbar ist, gibt es gleichzeitig andere Kräfte innerhalb des politischen Prozesses des Landes, die daran arbeiten, diese Richtung zu ändern.
Nicht nur hat der Bundesrat selbst im Oktober 2022 einen Bericht über seine Neutralitätspolitik veröffentlicht, in dem er zu dem Schluss kommt, dass die 1993 festgelegten Grundsätze nach wie vor gültig und die Grundlage für seine Entscheidungsfindung sind,23 sondern im Sommer 2024 hat der Nationalrat (die grosse Kammer des Parlaments) einen Antrag angenommen, der die Teilnahme der Schweiz an Nato-Missionen, die eine kollektive Selbstverteidigung gemäss Artikel 5 der Nato-Charta verlangen, verbieten würde. Die Begründung des Antrags, wie sie von der Sicherheitspolitischen Kommission des Rates vorgelegt wurde, lautet:
«Es liegt im Interesse der Schweiz, die Zusammenarbeit mit der Nato in bestimmten Bereichen zu stärken, insbesondere bei der militärischen Friedensförderung, der Verteidigung gegen Cyberangriffe oder der Systeminteroperabilität, um für eine mögliche künftige Zusammenarbeit im Notfall gerüstet zu sein. Gleichzeitig erkennt die Kommission die Notwendigkeit einer Klärung in Bezug auf die Wahrung der Neutralität und Blockfreiheit der Schweiz an. Die Neutralität und Blockfreiheit der Schweiz bleiben auch in diesen Zeiten wichtige und nützliche Instrumente der schweizerischen Sicherheits- und Aussenpolitik.»24
Der Erfolg des Antrags im Nationalrat war möglich, weil sich Nato-skeptische Fraktionen aus linken und rechten Parteien politisch neu ausrichteten.25
Der Antrag konnte jedoch den Ständerat (die kleine Kammer) nicht überzeugen, der ihn mit 29 zu 12 Stimmen (bei 4 Enthaltungen) ablehnte.26 Der Antrag wird nun erneut in der grossen Kammer beraten. Ein Blick auf die Debatte im Ständerat zeigt, dass unter den Parlamentariern kein Konsens darüber besteht, inwieweit eine Nato-Zusammenarbeit mit der Neutralität der Schweiz vereinbar ist oder nicht.27

Informationen zur Neutralitätsinitiative:
https://www.schweizer-standpunkt.ch/news-detailansicht-de-schweiz/gruendungsversammlung-der-bewegung-fuer-neutralitaet.html
https://www.schweizer-standpunkt.ch/news-detailansicht-de-schweiz/fuer-eine-eigenstaendige-und-unabhaengige-sicherheitspolitik-der-schweiz-ja-zur-neutralitaetsinitiative.html
https://www.schweizer-standpunkt.ch/news-detailansicht-de-schweiz/nato-turbos-an-der-eth.html
https://www.schweizer-standpunkt.ch/news-detailansicht-de-schweiz/schweizerische-neutralitaet-oder-kriegsbuendnis-nato.html
https://www.schweizer-standpunkt.ch/news-detailansicht-de-schweiz/man-kann-sich-nicht-mit-der-nato-verbuenden-ohne-mittaeter-zu-werden.html
Dieser Trend ist auch auf anderen gesellschaftlichen Ebenen sichtbar, am deutlichsten in Form der Eidgenössischen Volksinitiative «Wahrung der schweizerischen Neutralität» mit der eine landesweite Volksabstimmung verlangt wird. Bei Erfolg würde das Volksbegehren einen umfassenden Neutralitäts-Artikel in der Schweizer Verfassung verankern. Derzeit ist der Begriff «Neutralität» dort zweimal erwähnt aber nicht spezifiziert.
Im vorgeschlagenen Verfassungsartikel wird Neutralität als immerwährend, bewaffnet und bündnisfrei definiert und – zum ersten Mal in einer verfassungsmässigen Neutralität – wird auch festgehalten, dass der Staat gegen die kriegführenden Parteien keine wirtschaftlichen Sanktionen ergreift, jedoch zur Verhinderung und Lösung von Konflikten seine Guten Dienste zur Verfügung stellt.28
Die notwendige Anzahl von über 100 000 Unterschriften wurden im April 2024 in der Bundeskanzlei eingereicht. Die Parlamentsdebatten werden im Sommer und Herbst 2025 erwartet und die Volksabstimmung im Frühling 2026.
Während die Idee zunächst durch die Unterstützung des früheren Bundesrats Christoph Blocher (SVP) an Popularität gewann, ist das Initiativkomitee, das den Initiativtext ausgearbeitet hat, und sich auf die Abstimmung vorbereitet keiner politischen Partei verpflichtet. Während der Unterschriftensammlung hat sich ein separates Komitee aus Akademikern, Gewerkschaftern und Politikern der linken und grünen Parteien gebildet, das die Initiative tatkräftig unterstützt, wie auch führende Mitglieder der kommunistischen Partei.29
Nur fünf Monate später veröffentlichte eine andere Gruppe von Akademikern und Politikern einen Gegenvorschlag zur Initiative, in dem sie sich für einen viel offeneren Ansatz des Neutralitätsbegriffs aussprach.30
Offensichtlich ist die Unterstützung für die Neutralitätsinitiative keine Frage der Parteipolitik, sondern des Sicherheitsdenkens und der Wahrnehmung.
* Dr. Pascal Lottaz ist ausserordentlicher Professor an der Universität Kyoto, wo er die Neutralität in den internationalen Beziehungen untersucht und das Forschungsnetzwerk neutralitystudies.com leitet. Er ist Schweizer Bürger und Mitglied der internationalen Sektion der Sozialdemokratischen Partei. Seit 10 Jahren lebt er in Japan. Zu seinen neueren Büchern gehören «Sweden, Japan, and the Long Second World War» (Routledge, 2022), «Neutral Beyond the Cold: Neutral States and the Post-Cold War International System» (Lexington Books, 2022), und «Notions of Neutralities» (Lexington Books, 2019). Er schrieb auch Artikel über «Neutrality Studies» für die Oxford Encyclopedia und «The Politics and Diplomacy of Neutrality» für die Oxford Bibliography. Sie können ihm auf YouTube folgen: https://www.youtube.com/@neutralitystudies. |
1 «Ein Nato-Beitritt ist ausgeschlossen», Blick, 19. Mai 2022, https://www.blick.ch/video/aktuell/vbs-chefin-im-gespraech-viola-amherd-ueber-die-armee-in-kriegszeiten-id17505351.html
2 Norwegen war bereits für eine Invasion durch Grossbritannien vorgesehen, als Hitler zuerst einmarschierte.
3 Thukydides, «Geschichte des Peloponnesischen Krieges», übers. Richard Crawley, 1874 ed. (London: Longmans, 431 v. Chr.), S. 396–404.
4 David Keanu Sai, «Hawaiianische Neutralität: Vom Krimkrieg bis zum Spanisch-Amerikanischen Krieg», Vortrag an der Universität Cambridge, Grossbritannien, Centre for Research in the Arts, Social Sciences and Humanities, «Souveränität und Imperialismus: Aussereuropäische Mächte im Zeitalter des Imperialismus», 10.–12. September 2015.
5 Thomas Jonter, The Key to Nuclear Restraint: The Swedish Plans to Acquire Nuclear Weapons During the Cold War (London: Palgrave Macmillan, 2016).
6 Christopher Clark, The Sleepwalkers: How Europe Went to War in 1914, (London: Penguin Books, 2012).
7 Siehe Artikel 3 der Haager Konvention von 1907.
8 Siehe als Referenz Luca Ferro und Nele Verlinden, «Neutrality During Armed Conflicts: Ein kohärenter Ansatz zur Unterstützung von Kriegsparteien durch Drittstaaten», Chinese Journal of International Law, Nr. 17 (2018); Stephen C. Neff, «A Tale of Two Strategies: Permanent Neutrality and Collective Security», in Permanent Neutrality: A Model for Peace, Security, and Justice, Hrsg. Herbert Reginbogin und Pascal Lottaz (Lanham: Lexington Books, 2020).
9 Szvircsev Tresch et al., Studie «Sicherheit 2024». Aussen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitische Meinungsbildung im Trend. (Zürich: Militärakademie [MILAK] an der ETHZ, 2024), S. 55 https://www.newsd.admin.ch/newsd/message/attachments/86738.pdf
10 Szvircsev Tresch et al., Studie «Sicherheit 2024», S. 46.
11 Szvircsev Tresch et al., Studie «Sicherheit 2024», S. 42.
12 Filip Ejdus und Catherine Hoeffler, «Crypto-Atlanticism: The untold preferences of policy elites in neutral and non-aligned states», Contemporary Security Policy (2023), https://doi.org/10.1080/13523260.2023.2289329
13 Ejdus und Hoeffler, «Crypto-Atlanticism», S. 26.
14 Bundesrat, Zusatzbericht zum Sicherheitspolitischen Bericht 2021 über die Folgen des Krieges in der Ukraine vom 7. September 2022, https://www.fedlex.admin.ch/eli/fga/2022/2357/de, S. 33–34.
15 Bundesrat, Verteidigungsfähigkeit und Kooperation (Bern: Schweizerische Eidgenossenschaft, 31. Januar 2024), S. 23–27. https://www.newsd.admin.ch/newsd/message/attachments/85931.pdf
16 Bundesrat, Verteidigungsfähigkeit und Kooperation, S. 27.
17 «Globalist elites are trying to fool even Switzerland into the Alliance | Alberto Togni» (YouTube, 27. April 2024). https://youtu.be/U0eDxAX_tDk?si=B-LX6a-yy-NAUH4D
18 Katja Gentinetta, Bericht der Studienkommission Sicherheitspolitik (Bern: Eidgenössisches Departement für Verteidigung, Bevölkerungsschutz und Sport, 2024), S. 39.
19 «Der Chef der Armee nimmt am Treffen der Nato-Armeechefs in Brüssel teil», Medienmitteilung der Schweizerischen Eidgenossenschaft, 18. Januar 2024, https://www.news.admin.ch/de/nsb?id=99740
20 «Direktor der Direktion für Völkerrecht unterzeichnet Abkommen über rechtlichen Status des Nato-Verbindungsbüros in Genf», Medienmitteilung der Schweizerischen Eidgenossenschaft, 15. Juli 2024, https://www.admin.ch/gov/de/start/dokumentation/medienmitteilungen.msg-id-101857.html
21 Bundesrat, «Bundesrat beschliesst Beitritt zur European Sky Shield Initiative», Portal der Schweizer Regierung(2024), https://www.news.admin.ch/de/nsb?id=100650
22 «In a historic first, Swiss defence minister joins meeting of Nato's North Atlantic Council», North Atlantic Treaty Organization, 22. März 2023, https://www.nato.int/cps/en/natohq/news_213105.htm?selectedLocale=en
23 Schweizerischer Bundesrat, «Klarheit und Orientierung in der Neutralitätspolitik: Bericht des Bundesrates in Erfüllung des Postulates 22.3385, Aussenpolitische Kommission SR, 11.04.2022», (Bern, 26. Oktober 2022). https://www.newsd.admin.ch/newsd/message/attachments/73615.pdf
24 Sicherheitspolitische Kommission, «Fokussierung auf die verfassungsmässigen Aufgaben der Armee. Keine Teilnahme an Nato-Bündnisfallübungen!», Nationalrat, 13. Juni 2024, https://www.parlament.ch/en/ratsbetrieb/amtliches-bulletin/amtliches-bulletin-die-verhandlungen?SubjectId=65056
25 Andrea Fopp, «Wie linke Pazifisten und rechte Neutralitäts-Turbos die Schweiz abschotten wollen», Neue Zürcher Zeitung, 24. Juni 2024, https://www.nzz.ch/schweiz/landesverraeterin-pazifisten-erleben-harte-zeiten-und-suchen-ausgerechnet-die-naehe-zur-svp-ld.1834557
26 «Motion SiK-N. Fokussierung auf die verfassungsmässigen Aufgaben der Armee. Keine Teilnahme an Nato-Bündnisfallübungen!» Ständerat, 18. September 2024. https://www.parlament.ch/de/ratsbetrieb/amtliches-bulletin/amtliches-bulletin-die-verhandlungen?SubjectId=65557
27 Ebd.
28 Verein zur Wahrung der Schweizer Neutralität. «Die Neutralitätsinitiative», https://neutralitaet-ja.ch, abgerufen am 26. August 2024.
29 Pascal Lottaz, Verena Tobler Linder und Wolf Linder, «Aufruf von linken und grünen Unterstützern: Ja zur Neutralitätsinitiative!», neutralitystudies.com, 10. Januar 2024. https://schweizer-standpunkt.ch/news-detailansicht-de-schweiz/aufruf-von-linken-und-gruenen-ja-zur-neutralitaetsinitiative.html
Zu den Positionen der Schweizerischen Kommunistischen Partei siehe www.partitocomunista.ch
30 Cottier et al., «Manifest Neutralität 21», Association La Suisse en Europe. 29. Mai 2024. https://suisse-en-europe.ch/neutralitaet-21/