Zur schweizerischen Neutralität

Gefährliche Verstrickung der Schweizer Armee mit der Nato

Jean-Paul Vuilleumier. (Bild zvg)

von Jean-Paul Vuilleumier, Redaktion «Schweizer Standpunkt»

Die immerwährende bewaffnete Neutralität ist einer der wichtigsten Grundsätze der Schweizer Aussenpolitik. Die Idee der Neutralität ist in unserem Land, seiner Bevölkerung und seiner Geschichte gut verankert. Sie direkt und offen abzuschaffen, ist deshalb nicht durchführbar. Seit einigen Jahrzehnten wird jedoch an der Aufweichung und Zersetzung des ursprünglichen Neutralitätsbegriffs gearbeitet.

In diesem Beitrag werden zuerst aktuell diskutierte Ereignisse neutralitätsrechtlicher und neutralitätspolitischer Art aufgeführt.

Anschliessend geht es um die – von vielen Menschen unbemerkt – seit rund 30 Jahren vorangetriebenen Schritte zur Einbindung der Schweiz in die Nato. Bei mehreren dieser Schritte gab es sowohl im Parlament als auch in der Bevölkerung eine deutliche Opposition, die jedoch vom Bundesrat und den Medien entweder übergangen oder mit massiver Propaganda bekämpft wurde. Diese antidemokratische und neutralitätsauflösende Fehlentwicklung muss dringend gestoppt und korrigiert werden.

Aktuelles

Die Debatte um die Schweizer Neutralitätspolitik ist seit Beginn des Jahres 2022 in vollem Gang. Gründe dafür sind – unter anderen – folgende Punkte:

  • Die Schweiz hat die USA- und EU-Sanktionen gegen Russland praktisch uneingeschränkt übernommen.
  • Das Aussendepartement hat sich für «kooperative Neutralität» anstelle der «integralen Neutralität» eingesetzt.
  • Die Schweiz hat im UNO-Sicherheitsrat Einsitz genommen.
  • Für die Arbeit des IKRK als weltweit wichtigste humanitäre Organisation ist die uneingeschränkte Neutralität der Schweiz zentral.
  • Für eine eidgenössische Volksinitiative zur Wahrung der immerwährenden bewaffneten Neutralität werden Unterschriften gesammelt.
  • Bundesrätin Viola Amherd entscheidet praktisch im Alleingang – undemokratisch und Nato-hörig – über den Kauf amerikanischer F-35-Jagdbomber.
  • Die Medien und ein Teil der Parlamentsmitglieder werben mit grossem Nachdruck für die direkte und/oder indirekte Weitergabe von Schweizer Munition, Waffen und Panzern an die Ukraine.
  • Im Februar 2023 empfängt Korpskommandant Thomas Süssli, Chef der Schweizer Armee, den Nato-Oberbefehlshaber in Europa, General Christopher Cavoli für Gespräche zur «Intensivierung der Kooperation mit der Nato».
  • Da General Cavoli zusätzlich zu seiner Nato-Funktion auch Kommandant der amerikanischen Streitkräfte in Europa (USEUCOM) ist, werden auch die Möglichkeiten zur «Stärkung der bilateralen Kooperation» mit den Streitkräften der USA diskutiert.
  • Bundesrätin Viola Amherd behauptet, die Schweiz könne sich nur mit Unterstützung der Nato vor den aktuellen Gefahren schützen. Deshalb müsse sie der Nato-geführten «Sky Shields Initiative» zur bodengestützten Luftverteidigung beitreten.

Rückblick

1996: «Partnerschaft für den Frieden» (PfP)

1994 gründet die Nato ihre Unterorganisation Partnerschaft für den Frieden (PfP). Bereits 1996 ist der Bundesrat entschlossen, sich ihr anzuschliessen. Damals bestand die PfP aus 29 Nato-Ländern und 22 Partnerstaaten.

Parlamentarierinnen und Parlamentarier aus sieben Parteien fordern vom Bundesrat, den PfP-Beitritt dem Parlament vorzulegen und dem fakultativen Referendum zu unterstellen.

Der Bundesrat geht nicht darauf ein, und am 11. Dezember 1996 unterzeichnet Bundesrat Flavio Cotti, Vorsteher des Eidgenössischen Departements für auswärtige Angelegenheiten (EDA), im Nato-Hauptquartier in Brüssel das Rahmendokument zur «Partnerschaft für den Frieden».

Darin sind u.a. folgende Ziele aufgeführt:

  • «Entwickeln militärischer Kooperationsbeziehungen mit der Nato»;
  • «Aufbau von Streitkräften, die besser gemeinsam mit den Nato-Streitkräften operieren können»;

Wahrlich eigenartige Ziele für eine «Friedenspartnerschaft»!

1997: «Euro-Atlantischer Partnerschaftsrat» (EAPR)

Ebenso eigenmächtig wie den PfP-Beitritt vollzieht der Bundesrat ein Jahr später (1997) den Beitritt zum Euro-Atlantischen Partnerschaftsrat (EAPR), in dem die Nato-Mitgliedsstaaten und die PfP-Partnerstaaten sicherheitspolitische Fragen besprechen.

Wieder gibt es heftigen Protest von Parlamentariern von links bis rechts gegen dieses undemokratische Vorgehen. Der Bundesrat tritt trotzdem bei.

Folgenden drei Bedingungen hat der Bundesrat mit der Unterzeichnung des EAPR zugestimmt:

  • Verpflichtung zur Teilnahme an vier jährlichen Nato-Treffen auf Ministerebene;
  • Verpflichtung, unter dem Präsidium des Nato-Generalsekretärs zu tagen;
  • Verpflichtung zur Zusammenarbeit mit der Nato bei der «Bekämpfung des internationalen Terrorismus».

1999: Revision der Bundesverfassung

1999 steht die Abstimmung über die Revision der Bundesverfassung an. Der Bevölkerung wird diese irreführend als unbedeutende «Nachführung» angepriesen. In den Abstimmungserläuterungen erfährt man nicht, dass im Armeebereich folgende entscheidende Änderungen und Weglassungen vorgesehen sind:

  • Die neue Verfassung schwächt das «Milizprinzip»,1 führt eine neue Kategorie von «Durchdienern»2 ein, beschneidet die Kompetenzen der Kantone, nimmt dem Parlament ein Teil seiner Befugnisse, indem sie die militärische Entscheidungskompetenz an den Bundesrat überträgt, und beseitigt damit wichtige Hindernisse, die einer Annäherung an die Nato entgegenstanden.

Die Volksabstimmung zur Revision der Bundesverfassung findet am 18. April 1999 statt. Die Vorlage wird angenommen.

1999: Die Nato verwandelt sich in ein «Angriffsbündnis»

Einen knappen Monat zuvor, am 24. März 1999 lösen die Nato-Streitkräfte – ohne Mandat der UNO und damit völkerrechtswidrig – den ersten Angriffskrieg auf europäischem Boden seit dem Zweiten Weltkrieg aus. Er wird in Washington geplant und von dort aus geführt. Während 78 Tagen werden täglich zivile Infrastrukturen Serbiens von Nato-Flugzeugen bombardiert.

Einen Monat nach Kriegsbeginn, am 24. April 1999, verabschieden die Regierungsvertreter der Nato-Staaten in Washington gemeinsam ein neues «Strategisches Konzept», mit welchem sie das seit 1949 bestehende sogenannte «Verteidigungsbündnis» in ein «Angriffsbündnis» umwandeln.

2001: Revision des Militärgesetzes

Trotz dieser völkerrechtswidrigen Aggression der Nato-Kriegsallianz gegen ein europäisches Land legt der Bundesrat 2001 dem Parlament eine Revision des Militärgesetzes vor, um die Bewaffnung der Schweizer Truppen im Ausland und die militärische Zusammenarbeit mit den Nato-Staaten zu ermöglichen.

Im Rahmen der Propaganda des Departementes für Verteidigung, Bevölkerungsschutz und Sport (VBS) wird unter anderem behauptet, bewaffnete Auslandeinsätze seien «Teil unserer gelebten, solidarischen und weltoffenen Neutralität» und sie seien «neutralitätsrechtlich unbedenklich».

Das Referendum gegen diese Revision des Militärgesetzes wird knapp abgelehnt. Es fehlten gesamtschweizerisch lediglich 20 000 Stimmen, um die Vorlage zurückzuweisen.

Entwicklung der Bestände der Armee zwischen 1968 und 2020:
Soll- und Effektivbestand (blau und rot). In den letzten 30 Jahren
wurde der Armeebestand um 75 Prozent reduziert, von rund
400000 auf 100000.

2003: «Armee XXI»

Im Jahr 2003 kommt die Vorlage «Armee XXI» zur Abstimmung. Sie zielt hauptsächlich darauf ab, die Armee noch weiter zu reduzieren und nach Nato-Normen umzubauen.

Hauptpunkte sind:

  • Massive Verkleinerung und Verjüngung der Truppen;
  • Reduktion und Auflösung ganzer Truppengattungen;
  • Aufhebung der bisherigen Korps, Divisionen und Regimenter und Ersatz durch die Nato-Kategorien «Bataillone» und «Brigaden»;
  • Aufhebung der Mitsprache des Volkes in grundlegenden Armeefragen.

Beide eidgenössischen Räte stimmen der Armee XXI zu, worauf die Gegner das Referendum ergreifen. Während des Abstimmungskampfes heisst es neben vielen anderen manipulativen Argumenten VBS-intern unverblümt:

  • «Es macht heute keinen Sinn mehr, neutral zu sein.» oder
  • «Die autonome Landesverteidigung macht weder Sinn, noch ist sie finanzierbar.» oder
  • Man muss «die Neutralität, an der kein Bedarf mehr besteht, sanft einschlafen lassen», um keinen Widerstand in der Bevölkerung hervorzurufen.

Die Vorlage zur Armee XXI wird am 18. Mai 2003 in der Volksabstimmung angenommen.

2010: «Weiterentwicklung der Armee» (WEA)

Die Weiterentwicklung der Armee (WEA) ist nach der Armee 95 und der Armee XXI eine weitere Reorganisation der Schweizer Armee, die mit dem Sicherheitspolitischen Bericht vom 23. Juni 2010 und dem Armeebericht vom 1. Oktober 2010 angestossen wurde.

Die Umsetzung der WEA beginnt 2018 und endet am 31. Dezember 2022. Sie hat zum Ziel «die Armee modern und flexibel auf die Zukunft auszurichten». Dazu sollen «die Bereitschaft erhöht, die Kaderausbildung und die Ausrüstung verbessert sowie die regionale Verankerung der Armee gestärkt werden».

Am 2. Juni 2023 lässt der Bundesrat in einer Medienmitteilung verlauten, dass er hinsichtlich des Schlussberichts der Weiterentwicklung der Armee (WEA) eine positive Bilanz zieht.

Am 6. Juni 2023 stellt der Verband Militärischer Gesellschaften Schweiz (VMG) im Gegensatz dazu ernüchtert fest, dass die WEA in ihren zentralen Kernbereichen der vollständigen Ausrüstung und der personellen Alimentierung ihre Ziele bei Weitem nicht erreicht hat. Der Schlussbericht wird deshalb als mangelhaft und enttäuschend bezeichnet.

2022: «Partnerships 360 Symposium»

Vom 11. bis 13. Juli 2022 findet das dritte «Nato-Partnerschaftssymposium» auf Schweizer Boden in der «Maison de la Paix» (sic) in Genf statt. Es ist das erste Mal, dass ein solches Treffen in einem Partnerland und nicht in einem Mitgliedsland durchgeführt wird. An der Veranstaltung nehmen mehr als 250 Teilnehmer aus 54 verbündeten Staaten und Partnerländern sowie aus internationalen Organisationen und Nichtregierungsorganisationen, Exzellenzzentren und den militärischen Kommandos der Nato teil.

Am 12. Juli eröffnet Staatssekretärin Livia Leu gemeinsam mit dem stellvertretenden Generalsekretär der Nato, Mircea Geoană und dem stellvertretenden Oberkommandierenden des alliierten Kommandos «Transformation», General Christian Badia, das Symposium. Botschafterin Pälvi Pulli, Chefin der Sicherheitspolitik des VBS, sowie Korpskommandant Thomas Süssli, Chef der Schweizer Armee, nehmen ebenfalls am Symposium teil.

Das Motto der Veranstaltung heisst «Eine NATO»: Zweifellos ein weiterer Schritt zur Einbindung der Schweiz in diese Militärallianz.

2022: «Zusatzbericht zum Sicherheitspolitischen Bericht 2021»

Am 7. September 2022 publiziert der Bundesrat einen «Zusatzbericht zum Sicherheitspolitischen Bericht 2021 über die Folgen des Krieges in der Ukraine». In diesem 37-seitigen Dokument ist ständig von «Kooperation» und «Zusammenarbeit» die Rede – allerdings einzig mit der Nato und der EU.

Indem wir mit multilateralen Foren und nicht-westlichen Drittstaaten aus allen Teilen der Welt zusammenarbeiten, können wir unsere gelebte Neutralität unter Beweis stellen und mögliche Bedrohungen von aussen reduzieren – aber keinesfalls, indem wir uns an ein kriegführendes Bündnis binden!

2023: «Sky Shields Initiative» ist ein Nato-Projekt

Am 6./7. Juli 2023 findet auf Einladung von Bundesrätin Viola Amherd in Bern ein D-A-CH-Treffen der Verteidigungsminister und -ministerinnen der Schweiz, Österreichs und Deutschlands statt. Dort unterzeichnet Bundesrätin Amherd eine Absichtserklärung zur Teilnahme an der Beschaffungsinitiative European Sky Shields Initiative, mit der die Nato in ganz Europa eine integrale Luft- und Raketenverteidigung ausbauen will.

Weshalb erfuhr die Öffentlichkeit erst an der Pressekonferenz vom 7. Juli 2023 offiziell von dieser Erklärung, obwohl sie bereits seit dem 13. Oktober 2022 fertiggestellt war?

Fazit

Das oben beschriebene Vorgehen des Bundesrates, der dazugehörigen Administration und der Armeeführung hat über die letzten Jahrzehnte zu einer deutlichen Schwächung der schweizerischen Souveränität und Neutralität geführt. Unser Land ist damit zu einem einfachen Opfer für politische und wirtschaftliche Erpressungen geworden – auch aus den USA. Die Verstrickung der Schweizer Armee mit der Nato – an Parlament und Bürgerinnen und Bürgern vorbei – ist eine 180°-Wende in der bisherigen Neutralitäts- und Friedenspolitik, die zu Sicherheit und Stabilität unseres Landes auch in stürmischen Zeiten viel beigetragen hat.

Durch die Aufweichung und Zersetzung des ursprünglichen Neutralitätsbegriffs gefährdet die Schweiz ihr Ansehen als verlässlicher Partner in der Unterstützung von Konfliktparteien bei der Suche nach einer Verhandlungslösung. Ihre «Guten Dienste», die bisher eine Schlüsselrolle in der schweizerischen Friedenspolitik spielten, sind bereits weniger gefragt. Gefährdet ist damit auch die für die Arbeit des IKRK unabdingbare Neutralität. Die Beteuerungen des Departements für auswärtige Angelegenheiten, die Schweiz sei trotz allem noch neutral, wirken weniger glaubhaft.

Es ist entscheidend, zu einer glaubhaften und verlässlichen Neutralitätspolitik zurückzufinden und die eigenen Ressourcen nicht mehr für «fremde Händel», sondern für die Unabhängigkeit unseres Landes einzusetzen.

1 «Milizprinzip»: Öffentliche Aufgaben werden in der Schweiz meist nebenberuflich ausgeübt.

2 Ein «Durchdiener» absolviert die gesamte Zeit seines Militärdienstes vom ersten Tag der Rekrutenschule an bis zur Entlassung aus der Armee am Stück. Dies im Gegensatz zum bisherigen Modell der Rekrutenschule mit anschliessenden jährlichen Wiederholungskursen.

Verwendete Dokumente:

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