Warum ein «Schweizer Standpunkt»?

red. Wie zwei Welten, die einander nicht mehr verstehen und vielleicht auch nicht verstehen wollen, stehen sich heute oft Menschen mit ihren Positionen in der Öffentlichkeit gegenüber. Als krasses Gegenteil – ja, sogar als bewusste Verdrehung – erscheint häufig die andere Meinung dem Gegenüber.

Graben durch die Schweiz

Genauso standen sich die Meinungen vor dem Ersten Weltkrieg innerhalb der Schweiz gegenüber: die einen riefen «Vive la France!», die anderen «Es lebe das Reich!». Quer durch das Land ging der Graben – von der Presse des jeweils angrenzenden Staates emotional befeuert. Jede Partei fühlte sich im Recht. Die anderen – das waren die «Bösewichte». Der Bundesrat wurde aufgefordert, «endlich» auf dem internationalen Parkett Position gegen die «andere» Seite zu beziehen. Ein gefährlicher Drahtseilakt für einen neutralen Kleinstaat, umgeben von zwei hochgerüsteten Kriegsparteien.

Brücken schlagen

In dieser Situation sah sich der Schriftsteller und spätere Literatur-Nobelpreisträger Carl Spitteler (1845–1924) aufgefordert, einen Beitrag für den Zusammenhalt innerhalb der Landesgrenzen zu leisten. Mit seiner Rede, gehalten in Zürich vor der «Neuen Helvetischen Gesellschaft», versuchte er im Dezember 1914 – drei Monate nach Ausbruch des Ersten Weltkrieges – Brücken zwischen den zwei entfremdeten Landesteilen, der deutschen und der französischen Schweiz, zu schlagen und für «Unseren Schweizer Standpunkt» zu werben. Er war sich der Fragilität des Kleinstaates bewusst: umgeben von starken Nachbarn mit ihren strategischen Interessen in Bezug auf das Schweizer Territorium; die Bevölkerung selbst ein heterogener Mix aus verschiedenen Sprachen, Konfessionen, Traditionen, Kulturen und auch «egoistische» Ziele Einzelner über die Landesgrenzen hinaus.

Das Elend der anderen berührt uns

Carl Spitteler gelang es in seiner Rede, einen Schweizer Standpunkt herauszuarbeiten:
Neutral im Krieg zu sein, heisst nicht, gefühllos zu sein oder ohne Anteilnahme für den Nachbarn zu bleiben. Das Elend der anderen – ob Franzosen, Deutsche, Engländer usw. –berührt uns. Der Zufall, in einem neutralen Staat zu leben und nicht in die Kriegswirrnisse verwickelt zu werden, darf jedoch nicht hochmütig machen, sondern fordert zur Bescheidenheit auf.

Intellektuell differenziert und mit viel Einfühlungsvermögen zeigte Spitteler vor über 100 Jahren eine Haltung auf, die zwischen menschlichen Gefühlen, Staaten im Krieg, Nationalismus und Neutralität unterscheiden kann und heute so aktuell ist wie damals.

Über die vergangenen Zeiten des Ersten und Zweiten Weltkrieges und des Kalten Krieges bis hin zur Gegenwart mit ihrer ungehemmten Globalisierung gelingt es der Schweiz immer wieder, eine neutrale und vermittelnde Rolle einzunehmen.

Für Gerechtigkeit und Neutralität heute

Ein Schweizer Standpunkt, eine kluge, menschliche und von Bescheidenheit geprägte Position zur Wahrung von Gerechtigkeit und Neutralität – nicht nur in Zeiten roher Gewalt – fand und findet weltweit Aufmerksamkeit. Diese Einstellung nicht aufzugeben, sondern mit Blick in die Welt aufrecht weiterzutragen, ist die herausfordernde Aufgabe, die wir mit unserer neuen Online-Publikation in Angriff nehmen.

Die ganze Rede von Carl Spitteler, gehalten am 14. Dezember 1914 in Zürich, finden Sie im pdf-Format zum Ausdrucken hier.